Orientierung in stürmischen Zeiten

Die Mitarbeitenden der AETAS Kinderstiftung sprechen unter anderem von «Leuchttürmen» und «Seefahrenden». Bildhafte Vergleiche werden genutzt, um zu verstehen, einzuordnen und handlungsfähig zu werden. Nicht nur für die kleinen Menschen kann dies hilfreich sein.

Sie weisen im Umgang mit jungen Betroffenen darauf hin, dass traumatische Lebensstürme gesund verarbeitet werden können. Welche Faktoren spielen dabei eine besondere Rolle?

Simon Finkeldei: Wir wissen heute, dass nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch die Situationen vorher und nachher bestimmen, ob ein belastendes Ereignis gut überstanden wird. Es ist also auch relevant, in welcher Verfassung die Betroffe-nen vorher waren. Während des Geschehens gibt es eine Reihe von objektiven und subjektiven Faktoren, die einen Unterschied machen. Zum Beispiel, ob das Ereignis absichtlich durch eine nahestehende Person oder durch ein zufälliges Unglück ausgelöst wurde. Danach kommt es unter anderem darauf an, wie Bezugspersonen sich verhalten, über das Ereignis denken und sprechen. Der Belastungsgrad einer Bezugsperson ist ein weiterer kritischer Faktor dafür, wie gut eine belastende Situation verarbeitet werden kann.

Was verstehen Sie unter der von Ihnen viel zitierten «Leuchtturmarbeit»?

Tita Kern: In unserer Bildsprache sind die Kinder kleine Seefahrende, die normalerweise abenteuerlustig auf den Meeren unterwegs sind und die Welt entdecken. Wenn sie aber in einen Sturm geraten, brauchen sie Leuchttürme. Diese stehen sinnbildlich für Bezugspersonen, die Verbindung und Orientierung anbieten, die signalisieren, dass Seefahrende in Not Hoffnung haben dürfen. Das können Eltern, Patentanten, Lehrkräfte oder andere Fachkräfte sein. In Unternehmen können dies die Vorgesetzten oder HR-Verantwortlichen sein. Die Hauptleuchttürme sind die vertrauten Bezugspersonen. Mit ihnen arbeiten wir in der Krisenintervention sehr eng zusammen. Gerade Kinder sind, wenn etwas Schlimmes passiert, durch ihre Abhängigkeit in einer besonderen Rolle. Sie haben weniger eigenen Spielraum in Akutsituationen und in der weiteren Verarbeitung.

Sie werden sich an ihren Leuchttürmen orientieren, um abzulesen, wie gefährlich es ist, was gerade passiert. Was Bezugspersonen tun und nicht tun, worüber sie sprechen und nicht sprechen, ist für Kinder massgebend. Wenn wir es schaffen, Bezugspersonen möglichst stabil aufzustellen, sodass sie sich sicher fühlen in einer Situation, die für sie selbst auch hoch belastend ist, dann können sie rettende Leuchtfeuer sein.

Zu welchem Zeitpunkt ist die Leuchtturmarbeit am wichtigsten?

Finkeldei: Sie beginnt bereits damit, jederzeit gut vorbereitet zu sein, um im Notfall agieren zu können. Zur Vorbereitung gehört auch, Leuchttürme fortzubilden. Während eines Ereignisses versuchen wir, Situationen zu begrenzen, weil Sicherheit im Kopf nicht davon abhängt, ob draussen geschossen wird oder nicht, sondern wann es sich wieder sicher anfühlt. Auch die Phase danach ist wichtig: Wie kann ein Kind erleben, dass ein schlimmes Ereignis vorbei ist, wenn in den Medien, zu Hause und in der Schule ständig darüber gesprochen wird? Alle Phasen der Betreuung – Vorbereitung, Notfalleinsatz und Begleitung – sind wichtig, um die Betroffenen zu stabilisieren.

In Ihrem Projekt «Kurswechsel» werden verschiedene Metaphern benutzt. Können Sie uns erklären, warum gerade für Kinder bildliche Vergleiche hilfreich sein können?

Kern: Wir arbeiten viel mit Bildern, wie Seefahrerkinder, Leuchtturm, Ruderboot, Kompass, Taschenlampe, Feuerlöscher. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch unser Handwerkszeug. Warum? Weil Menschen in Geschichten denken. Mit solchen Bildern können sie sich einerseits identifizieren, andererseits helfen diese auch, ein bisschen Abstand zu halten. Das ist hilfreich in einer Zeit, wo ohnehin so viel Alarm im Kopf passiert. Wenn die Dinge etwas Abstand haben, kann man leichter zuhören und denken. Unsere Bilder geben den Familien eine gemeinsame Sprache. Sie machen Dinge «besprechbar», die es vorher unter Umständen nicht gewesen sind. Das ist ein wichtiger Schritt raus aus der Hilflosigkeit.

Wie schaffen Sie es als Einsatzkräfte, mit all dem Schweren umzugehen?

Finkeldei: Dazu fällt mir ein schöner Satz von Tita ein: «Belastung braucht Bewegung und Gefühle brauchen Luft.» Durch körperliche Bewegung und gesunde Ernährung kann ich am besten Stress reduzieren. Dabei hilft mir auch das Bild der Alge.

Was meinen Sie mit «Bild der Alge»?

Kern: Algen sind faszinierend. Sie sind sehr tief verwurzelt, haben damit eine unheimliche Stabilität und sie sind gleichzeitig maximal flexibel. Das bedeutet, sich nicht auflehnen gegen das, was gerade geschieht und nicht zu ändern ist, sondern mitgehen. Wir sagen uns: «Ja, diese Dinge passieren. Wie eine Alge gehen wir mit den Stürmen mit und filtern das Wertvolle heraus.»

Wir erleben viele schöne, berührende, wertvolle, beeindruckende Momente, in denen wir merken, dass die Familien es schaffen, wieder einen Fuss vor den anderen zu setzen. Und dass sie grossartige Ideen haben, was helfen könnte. Diese Momente herauszufiltern und behalten zu dürfen, aber das andere auch loslassen und sagen zu können: «So ist das Leben, und da gehe ich mit und leiste meinen Beitrag» – auch das ist das Bild der Alge.

Finkeldei: Die Alge ist jederzeit mit etwas verbunden, das ihr Halt gibt. Das kann der Gedanke an einen ruhigen Feierabend oder liebe Menschen sein, oder auch Spiritualität.

Kern: Man darf Selbstfürsorge nicht dem Zufall überlassen, das muss echtes tagtägliches Handwerkszeug sein.

Was mir persönlich hilft, gesund zu bleiben, ist die tiefe Überzeugung, dass es einen Teil in jedem Menschen gibt, der von Dunkelheit nicht überschattet wird und von dem Heilung ausgehen kann. Mit diesem Teil können wir Verbindung aufnehmen, damit ganz viel wachsen kann, das den Schmerz lindert und die Gesundheit erhält oder wiederherstellt.

Tita Kern ist Psychotraumatologin (M.Sc.), Systemische Familientherapeutin (DGSF) und Traumatherapeutin. Sie ist seit 2013 die fachliche Leiterin der AETAS Kinderstiftung. Als Dozentin lehrt und schreibt Tita Kern zu den Schwerpunktthemen Notfallpsychologie und Traumatherapie.

Simon Finkeldei ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut (VT), Lehrtherapeut und Supervisor. Er ist als psychotherapeutischer Leiter
der AETAS Kinderstiftung tätig und lehrt zu den Themen Krisenintervention/Notfallpsychologie, Suizidprävention und Traumatherapie.

 

AETAS Kinderstiftung
Die KinderKrisenIntervention der AETAS Kinderstiftung in München unterstützt Kinder, Jugendliche, deren Bezugspersonen und Fachkräfte nach hoch belastenden Lebenserfahrungen. Dazu gehören unter anderem der plötzliche traumatische Tod einer nahen Bezugsperson, das Bezeugen von Suizid oder Suizidversuchen und tragische Unglücksfälle.

Weitere Infos: www.aetas-kinderstiftung.de

Interview: Petra Strickner

Positives für ein gelingendes Leben

Die bewusste gedankliche Konzentration auf positive Momente und die Adressierung der entsprechenden Erkenntnisse können dabei helfen, Belastendes besser zu bewältigen. Was sich im Alltag trainieren lässt, kann für das Leben flexibler, offener und belastbarer machen.

Können Sie uns bitte einleitend erklären, was «Positive Psychologie» bedeutet?

Positive Psychologie ist die Wissenschaft vom gelingenden Leben. Lange Zeit hat sich die Psychologie damit beschäftigt, was nicht gut gehen kann im Leben. Es wurde viel Wissen darüber angehäuft, wie man psychische Belastungen erkennt, die Mechanismen dahinter verstehen und beschreiben und wie man versuchen kann, diese zu lindern. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts haben die Forschenden den Blick zunehmend auf folgende Fragen gerichtet: Wie bringt man Menschen von einer Depression in einen Zustand der Nicht-Depression oder von einer traumatischen Erfahrung in einen Zustand von nicht mehr traumatisch belastet? Also in einen Zustand, in dem Menschen ihr Leben als gelingend, freudvoll und zuversichtlich beschreiben. In der Positiven Psychologie verwendet man dafür den Begriff des «Flourishing».

Flourishing?

Ja, genau, die Wissenschaft vom gelingenden Leben. Sie fragt danach, was macht Menschen zuversichtlich, glücklich, hoffnungsvoll und welche Stärken erleben sie dabei in sich? Welche Rolle spielen positive Gefühle, gerade auch angesichts herausfordernder Lebensereignisse? Und wie können Menschen Sinn erleben und gelingende und erfüllende Beziehungen erfahren? Die Antworten auf diese Fragen sind in der Summe die Nährstoffe, die eine Blume für ein Erblühen benötigt – oder Menschen eben zum «Flourishen» bringt.

Wir haben es in der Akutbetreuung mit Menschen zu tun, denen gerade etwas Ausserordentliches widerfahren ist. Angesichts von Belastungen und Leid auf das Positive zu schauen, scheint eine immense Gratwanderung zu sein …

Wenn ein Mensch eine belastende Erfahrung macht, einen Schicksalsschlag erlebt, aus der Bahn geworfen wird, dann ist das erst mal nichts Schönes, nichts Gutes, aber auch nichts Sinnvolles. Das ist ein Schicksalsschlag. Damit Menschen lernen können, mit einer solchen Situation «gut» umzugehen und trotzdem gut weiterzuleben, braucht es eine Erweiterung der Wahrnehmung.

Inwiefern?

Die Wahrnehmung verengt sich angesichts einer Krise normalerweise zu einem Tunnelblick. Negative Reize ziehen unsere Wahrnehmung an, was auch sinnvoll ist. Durch die Fokussierung auf das Bedrohliche rutscht alles, was auch nur ansatzweise schön, erfreulich, zufriedenstellend ist, in den Hintergrund. Zudem haben Betroffene oft auch ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich über ein Vogelzwitschern am Morgen freuen, obschon doch gerade eben Schreckliches passiert ist. Und sie fragen sich oft: Bin ich ein schlechter Mensch, dass ich mich darüber freue? Nein. Dieses Nein zu erkennen, ist exakt der Weg der Heilung und der Weiterentwicklung.

Barbara Fredrickson schreibt in ihrem Buch «Die Macht der guten Gefühle», dass es drei emotional positive Erlebnisse braucht, um ein emotional bedrückendes Erlebnis auszugleichen. Was sagen Sie dazu?

Es geht nicht darum, einem starken negativen Erlebnis ein ebenso starkes positives Erlebnis gegenüberzustellen. Es geht darum, mit vielen kleinen positiven Momenten, den sogenannten «Seifenblasenmomenten», die Verarbeitung von Schicksalsereignissen zu unterstützen. Stellen Sie sich zwei Waagschalen vor: In eine kommen die Gefühle, die unangenehm sind – Angst, Trauer, Sorge, Wut, Verzweiflung. Und in die andere die positiven Gefühle – Freude, Zuversicht, Neugier, Inspiration, Staunen, Liebe. Wenn wir einen Querschnitt über die Zeit machen, wird sich auch in der positiven Waagschale immer etwas finden. Barbara Fredrickson spricht von der täglichen Dosis an positiven Gefühlen. Sie vergleicht dies mit einer gesunden Ernährung: Wenn ich einmal drei Kilo Broccoli esse, werde ich nicht gesünder. Wenn ich aber pro Woche mehrmals Gemüse esse, dann tut das meinem Immunsystem gut.

Sie sprechen von Seifenblasenmomenten. Womit werden Seifenblasen in der Positiven Psychologie in Verbindung gebracht?

Das Gehirn unserer Vorfahren war so ausgelegt, dass es Säbelzahntigern begegnen konnte. Diese «Grundeinstellung» ist erhalten geblieben. Sie führt dazu, dass unangenehme und gefährliche Reize äusserst schnell in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit springen. Wenn wir mit dieser «Werkseinstellung» unangenehmen Emotionen wie Angst, Trauer und Wut ausgesetzt sind, werden wir uns darauf fokussieren. Es ist so, als würde uns ein Tennisball treffen. Das spüren wir, und wir reagieren und werden handlungsbereit. Unsere psychische «Werkseinstellung» regelt jedoch leider positive Emotionen völlig anders. Sie sind nicht so deutlich und schnell da wie Tennisbälle, sondern sie kommen sanfter daher und sind schneller ablenkbar, eben wie Seifenblasen.

Welche Chance habe ich, mich für Seifenblasenmomente zu öffnen, wenn ich von einem Ereignis betroffen bin?

Wir sind unterschiedlich gestrickt und die Frage, wie schnell unser Gehirn auf die negative Spur einschwenkt oder wie viel Offenheit für Seifenblasenmomente da ist, ist auch genetisch mitbedingt. Das hat was mit Reizschwellen, Hirnstruktur, aber auch ganz viel mit der eigenen Biografie zu tun.

Was meinen Sie damit?

Ich umschreibe es mal so: Es kann entscheidend sein, ob ich mitten auf dem Tennisplatz oder an dessen Rand aufgewachsen bin, wo es zwischendurch auch Seifenblasenmomente gab, die wertgeschätzt wurden. Diese Aspekte können präventiv, zum Beispiel bei der Erziehung, einbezogen werden. Beispielsweise kann man mit den eigenen Kindern nach der Schule am Mittagstisch oder abends beim Ins-Bett-Bringen nicht nur darüber reden, was heute «doof» war, sondern auch auf schöne und erfreuliche Tageserlebnisse hinlenken. Wenn ich gleichzeitig wahrnehme, dass etwas schön ist, und ich mich darüber freue, dann kann ich das potenzieren. Dann gerät dieser Seifenblasenmoment quasi ins «Scheinwerfer- licht», er wird wesentlicher. Mein Gehirn lernt dadurch, solche Momente wichtig zu nehmen, und ich kann damit Widerstandskraft aufbauen. Es gibt Forschungsergebnisse, die zeigen, dass resiliente Menschen positive Emotionen nutzen, um nach Belastungssituationen wieder auf das vorherige Level an psychischer Leistungsfähigkeit zurückzufedern. Das kann als Strategie betrachtet werden, um aus schwierigen Situationen rauszukommen.

Kann man das auch selbst trainieren?

Ja. Wir können Seifenblasenmomente sammeln. Und wir können in unserem Leben Seifenblasenschonraumzonen einrichten, in denen wir Fragen stellen wie: «Was war heute schön, worüber habe ich mich gefreut, was hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert?» Auch wenn es viele «Tennisbälle» gibt und gab, ist es ausser Zweifel, dass auch kleinere oder grössere Seifenblasenmomente da sind, die es wahrzunehmen gilt. In diesem Sinn unterstützen Interventionen der Positiven Psychologie. Sie eröffnen der «Werkseinstellung» unseres Gehirns eine alternative «Parallelspur». Und damit werden wir handlungsflexibler, weil uns positive Gefühle zu anderen Handlungen bereit machen, also nicht zu Flucht, Kampf oder Einfrieren, sondern zur Exploration, zum Rausgehen, zum sozialen Kontakt. Und damit zum Neuen, zum Lernen. So können wir uns entwickeln und wachsen.

 

Mögliche Übung am Tagesende

1. Frage: Was war heute schön?
2. Frage: Wie habe ich dazu beigetragen, dass ich das als schön erlebt habe?

 

 

Dr. Daniela Blickhan, Dipl.-Psych., MSc, studierte Psychologie in Würzburg, Positive Psychologie in London und promovierte in Positiver Psychologie an der FU Berlin. Sie ist akkreditiert als Lehrtrainerin und Lehrcoach (DCV, DACH-PP, DVNLP). Daniela Blickhan leitet seit 1991 das Inntal Institut und hat seit 2013 den Vorsitz im Deutschsprachigen Dachverband für Positive Psychologie. Veröffentlichungen: «Positive Psychologie – ein Handbuch für die Praxis» (Junfermann, 2018), «Positive Psychologie im Coaching» (Junfermann, 2021 – Preis «bestes Coachingbuch 2021/22»)

Kontakt: www.inntal-institut.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Interview: Petra Strickner

Schutz und Selbstschutz auf allen Ebenen

Im Einklang mit unseren Werten und unserer Haltung haben wir für unsere Kundinnen und Kunden sowie für unsere Careteam-Mitglieder «Schutzkriterien» festgelegt.

Das «Würde-Konzept» des Psychologen und Politikwissenschaftlers Stephan Marks nennt vier entscheidende Faktoren für ein zufriedenes Leben in Würde: Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität. Diese Faktoren sind unverzichtbar für das Funktionieren einer gemeinschaftlichen Beziehung, sei es im Vorfeld, während oder nach einem Einsatz.

 

Quellen:
Marks Stephan: «Die Würde des Menschen ist verletzlich» und «Scham, die tabuisierte Emotion».

 

Das Grundbedürfnis nach Anerkennung
Menschen brauchen Anerkennung, um zu gedeihen – ähnlich wie Pflanzen Licht benötigen. Anerkennung in der Krisenintervention bedeutet: Ich nehme wahr, dass etwas Schlimmes passiert ist.

Vor dem Einsatz werten wir das Wissen und die Erfahrungen unserer Teammitglieder in Schulungen und Übungen auf. Während des Einsatzes ist es wichtig, den Betroffenen Anerkennung für die Schwere des Ereignisses zu geben und ihre Reaktionen zu respektieren. Unsere Haltung dabei ist, dass Menschen grundsätzlich in der Lage sind, Krisen zu überstehen und schwere Schicksalsschläge zu verarbeiten. Im Nachhinein werden Einsätze auf Teamebene durch verschiedene Methoden anerkannt, um die Qualität und Entwicklung zu fördern. Dies kann in der Form von Einsatznachgesprächen, Fallbesprechungen oder Supervisionen geschehen.

Auf der Unternehmensebene könnte die Haltung «Wir sind in einer ‹nicht normalen› Situation, und wir als Arbeitgebende sind für euch da» ein Signal in die angezeigte Richtung senden.

Das Grundbedürfnis nach Schutz
Wenn schützende körperliche oder seelische Grenzen verletzt wurden, können Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht oder Scham entstehen.

Wir schulen den Umgang mit Nähe und Distanz, um unsere persönlichen Grenzen zu wahren und die unserer Schutzbefohlenen wahrzunehmen. Die vorbereitenden Seminare stehen hauptsächlich im Kontext der Beantwortung folgender Fragen: Wie nahe darf ich einer Person körperlich kommen, wie verhält es sich bei Kindern und wie schütze ich mich oder die Betroffenen im Falle einer physischen Grenzüberschreitung? Die Freiwilligkeit der Einsätze dient zudem dem Schutz der einzelnen Teammitglieder. Ich muss als Caregiver nicht in den Einsatz, wenn ich gerade selbst belastet bin. Und ich muss als Notfallpsychologin oder Notfallpsychologe nicht in den Einsatz, wenn eine Nähe zur eigenen Biografie besteht, zum Beispiel wenn meine Kinder gleich alt sind wie die Betroffenen.

Während und nach dem Einsatz werden sowohl psychische als auch physische Schutzräume bereitgestellt, um die Sicherheit der Beteiligten auf unterschiedlichen Ebenen zu gewährleisten. Zum Beispiel werden Orte für Entlastungsgespräche organisiert, die nicht exponiert sind. Bei öffentlichkeitswirksamen Geschehnissen schützen wir die Betroffenen und unser Team vor neugierigen Blicken durch Passanten und Presse. Es besteht zudem selbstverständlich strengste Schweigepflicht. Auch Auftraggeber dürfen nicht über den Inhalt persönlicher Gespräche informiert werden.

Vorgesetzte und HR-Verantwortliche sind nach einem ausserordentlichen Ereignis besonders gefordert. Wer im Team braucht jetzt besonderen Schutz? Wie gehen wir mit heiklen Themen um? Wie schaffen wir trauerfreie Räume und Zeiten? Diese Fragen zu stellen und entsprechende Massnahmen zu ergreifen bzw. sich entsprechende fachliche Hilfe zu holen, zeichnet gelingendes Krisenmanagement aus und lohnt sich auch mittel- und langfristig.

Das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit
Einen Menschen in seiner Würde zu unterstützen, bedeutet, ihm Zugehörigkeit zu vermitteln.

Dem Wunsch nach Zugehörigkeit scheint die Arbeit in einem Careteam entgegenzukommen. Gemäss unserer letztjährigen Careteam-Umfrage fühlen sich die Mitglieder als Teil eines Netzwerkes, das ihre Normen und Werte teilt, und die geleistete Arbeit trägt zur eigenen Sinnstiftung bei.

Während der Hilfeleistungen sollten Betroffene von uns angehalten werden, so bald als möglich Kontakt zu ihren Hauptbezugspersonen herzustellen. Das ist umso wichtiger, je jünger die Betroffenen sind! Wir wissen, dass sich Menschen durch das besondere Erleben in einer Katastrophe sehr isoliert fühlen können. Dasein und aushalten hilft und vermittelt die zentrale Botschaft: «Du bist nicht allein!».

Nach dem Ereignis können Unternehmen und Arbeitskolleginnen und -kollegen dabei helfen, dass das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit weder in personaler noch in struktureller Weise verletzt wird. Wenn beispielsweise «Schwäche» nicht als schändlich angesehen wird, werden sich Betroffene nicht ausgeschlossen fühlen und auch eher Unterstützung suchen und bekommen.

Das Grundbedürfnis nach Integrität
Wenn ein Mensch seinen eigenen Werten nicht gerecht wurde und sich vor sich selbst schämt («Gewissensscham»), kann dies zu einer Verletzung der Integrität führen. Dabei geht es, gemäss Marks, nicht um die Erwartungen und Normen der anderen, sondern um die eigenen Werte.

Das heisst, den Mitgliedern unseres Careteams muss es möglich sein, ihre Fachkompetenz nach bestem Wissen und Gewissen einzusetzen. Das erfordert vor, während und nach dem Einsatz ein hohes Mass an Reflexion, Anpassung und Abgleich mit der Einsatzleitung, mit dem Auftraggeber und nicht zuletzt mit den eigenen (moralischen) Ansprüchen.

Moralisch richtiges Handeln beinhaltet auf der Unternehmerseite, dass Care-Massnahmen nicht als lästige Pflicht angesehen werden, sondern in der Grundhaltung verankert sind. Ehrlich gemeinte Sorge um die Mitarbeitenden multipliziert sich und schafft eine Kultur des Vertrauens und der Wertschätzung, womit wir wieder bei der Anerkennung wären.

Petra Strickner ist Diplompsychologin, systemische Therapeutin, Notfallpsychologin und Supervisorin. Für Carelink ist sie seit 2012 als Notfallpsychologin im Einsatz. Seit 6 Jahren leitet sie das Freiwilligenteam.

 

 

 

 

 

 

Wer anderen hilft, lebt glücklicher

An negativen Nachrichten mangelt es zurzeit nicht. Wir können das Unglück in der Welt nicht beseitigen und trotzdem glücklicher leben. Die Forschung bestätigt, was wir möglicherweise aus eigener Erfahrung kennen: Helfen stimmt positiv.

Leid, Krieg, Zerstörung … die Medien sind voll davon. Es ist unvorstellbar, was Menschen einander, der Natur und anderen Lebewesen antun. Manch einer verliert die Hoffnung beim Blick in die täglichen Nachrichten. Und doch – das ist nur die halbe Wahrheit. Ja, es gibt viel Schreckliches auf dieser Welt, aber es gibt auch Menschen, die sich für andere einsetzen und viel dafür tun, um Gutes in diese Welt zu bringen. Menschen engagieren sich für andere, helfen und unterstützen, wo sie nur können – privat und beruflich, bezahlt und unbezahlt.

In diesem Beitrag soll der Blick explizit auf das Positive gerichtet werden, ohne dabei Schwierigkeiten und Belastungen zu bagatellisieren. Resilienzorientierung neben Leidorientierung – wie sie von der bekannten deutschen Psychiaterin und Traumatherapeutin Luise Reddemann eingefordert wird.

Wir wissen aus der Forschung, dass soziale Unterstützung einer der wichtigsten Faktoren ist, der eine Erholung, um nicht zu sagen «Heilung», nach traumatischen Erlebnissen ermöglicht. So soll es in diesem Beitrag um die Personen gehen, die diese soziale Unterstützung leisten – die Helferinnen und Helfer. Wir gehen der Frage nach, warum sich Helfen gut anfühlt, ob helfende Personen die «besseren Menschen» sind und wie Helfen Glücksgefühle produziert.

Warum sich Helfen gut anfühlt

Helfen ist anstrengend und kann belasten. Dennoch engagieren sich tausende Menschen ehrenamtlich bei Rettung oder Feuerwehr, arbeiten in ihrer Freizeit als Lehrpersonen, Fussballtrainer, Chorleiterinnen, begleiten sterbende Menschen u.v.m. Warum machen wir das, häufig sogar unbezahlt?

Der deutsche Sozialwissenschaftler und Glücksforscher Jürgen Schupp vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erklärt, dass Freizeitaktivitäten, die der Gemeinschaft dienen, wesentlich mehr Zufriedenheit bringen als beispielsweise eine Gehaltserhöhung. Macht Geld also doch nicht glücklich? Laut dem deutschen Sozialpsychologen Hans-Werner Bierhoff belegen Studien, dass Menschen, die Freunde, Verwandte oder Nachbarn unterstützten oder den Lebenspartner pflegten, ein signifikant reduziertes Sterblichkeitsrisiko aufwiesen. Und zwar unabhängig von Alter oder sozialer Einbindung. Umgekehrt, also für die Personen, die Unterstützung erhielten, galt das jedoch nicht. Auch für die Freiwilligenarbeit ist gut belegt, dass diese die Lebenszufriedenheit erhöht. Anderen Menschen zu helfen, fühlt sich also nicht nur gut an, sondern trägt auch wesentlich zum persönlichen Wohlbefinden und der Lebenszufriedenheit bei. Helfen, so Bierhoff, steigere zudem das Selbstwertgefühl. Da man in Übereinstimmung mit seinen Einstellungen handelt, komme ein Kreislauf der Selbstverstärkung in Gang. Man macht die Erfahrung, etwas bewirken zu können, und das steigere das Selbstwertgefühl.

Sind Helfende die besseren Menschen?

Die Motive, zu helfen, also sich altruistisch zu verhalten, sind vielfältig. Faktoren wie soziale Verantwortlichkeit, Mitgefühl mit leidenden Lebewesen und das Erleben von Selbstwirksamkeit spielen dabei eine Rolle, aber auch Schuldgefühle, das Gefühl, etwas zurückgeben zu wollen, oder Fairness. Ist

Helfen tatsächlich Ausdruck von Altruismus, oder machen wir das nur, um uns selbst besser zu fühlen ob der Ungerechtigkeit der Welt oder um uns von unseren eigenen Problemen abzulenken?

Der amerikanische Psychologe Daniel Batson hat sich mit genau dieser Frage auseinandergesetzt und unterscheidet zwei Motivationssysteme, die dem Helfen zugrunde liegen: das altruistische und das egoistische Motivationssystem. Bat- son und Mitarbeitende formulierten die Empathie-Altruismus-Hypothese, der zufolge Menschen nur dann altruistisch handeln, wenn sie Empathie empfinden. Durch Empathie wird Besorgnis um jemanden ausgelöst, was dazu führt, dass wir uns um diese Personen kümmern. Hilfeverhalten kann aber auch ohne Empathie stattfinden und durch das egoistische Motivationssystem aktiviert werden. Das wäre dann der Fall, wenn wir helfen, um unser persönliches Unbehagen zu reduzieren. Helfen wir jedoch aus egoistischen Gründen, stellen wir eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung auf: Wir wählen jene Handlungsalternative, welche die niedrigsten Kosten und die grösste Belohnung verspricht. Es kann also sein, dass wir die Fluchtmöglichkeit wählen, wenn wir uns unbeobachtet glauben, obwohl eine Person unsere Hilfe benötigt (beispielsweise bei einem Autounfall). Überwiegt jedoch die empathische Besorgnis, werden wir eher helfen, auch wenn wir eine ein- fache Fluchtmöglichkeit hätten. Während bei empathischer Besorgnis Gefühle wie Wärme, Weichherzigkeit oder Mitgefühl vorherrschen, fühlt man sich bei persönlichem Unbehagen alarmiert, beunruhigt und niedergedrückt, wenn man mit dem Leid des Opfers konfrontiert wird. Die Empathie-Altruismus-Hypothese wurde durch zahlreiche Experimente empirisch belegt.

Helfen produziert Glücksgefühle

Helfen kann zu positiven Gefühlen bei der helfenden Person führen. Ähnlich wie sportliche Betätigung («Runner’s High») kann Helfen zum sogenannten «Helper’s High» führen. Neurowissenschaftler aus den USA fanden heraus, dass bei Freiwilligenarbeit oder Spendentätigkeit dasselbe Hirnareal aktiviert wird, das auch bei anderen freud- und lustvollen Tätigkeiten wie Sex oder Essen reagiert. Man spricht auch vom Belohnungssystem im Gehirn. Dieses Hirnareal, mesolimbisches System genannt, schüttet dabei die sogenannten «Feelgood»-Neurotransmitter wie Oxytocin und Vasopressin aus. Das hat zur Folge, dass sich Menschen beim Helfen tatsächlich gut fühlen und diesen Zustand wieder herbei- führen möchten. Spannend dabei ist, dass das entsprechende Hirnareal schon allein durch das Denken an eine wohltätige Tätigkeit aktiviert wird. Man kann also sagen: Helfen produziert Glücksgefühle, stärkt das Immunsystem und reduziert Stress.

Dr.in Johanna Gerngroß ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin sowie Notfallpsychologin. Sie unterrichtet an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und leitet Universitätslehrgänge zu Notfall- und Traumapsychologie. Zudem ist sie Geschäftsführerin einer Unternehmensberatung (COMMITMENT Institut®), Buchautorin und in freier Praxis tätig.

«Umarme das Unerwartete!» – Theo Wehner über die Kultur des Scheiterns

Das Scheitern als Chance: Prof. em. Dr. Theo Wehner spricht sich für eine Kultur des Scheiterns aus, die «alles erwartet und somit nie enttäuscht werden kann».

Mit Michel Foucaults Zitat «Das Leben ist, was zum Irrtum fähig ist», stieg Prof. em. Dr. Theo Wehner fulminant in sein Referat über «das Scheitern» ein. Denn die persönliche Einstellung und das tatsächliche Verhalten weisen Differenzen auf: das Handeln ist zwar vorhersagbar, aber nicht determiniert. Die Differenz zwischen dem gewünschten und tatsächlichen Ergebnis – in diesem Fall der Grad der Zielverfehlung – führt zu unerwarteten Ereignissen.

Permanente Unsicherheit akzeptieren
Der Mensch kann diese mit den richtigen Strategien gut bewältigen. Dies hängt stark von seiner Situation, seinem Interesse, der jeweiligen Erwartung und letztendlich seinem Willen ab. «In der heutigen Wissensgesellschaft handeln wir permanent unter Unsicherheit», so Wehner. Die Unsicherheit als akzeptierter Normalzustand hilft, sich flexibel auf Unvorhersehbares einzustellen und die neue Situation rascher anzunehmen.

Aus Fehlern lernen
In Unternehmen spricht man dabei von einer gelebten Fehlerkultur, die vor allem eine Frage der Haltung ist. Ein Fehler (wider besseren Könnens und Wissens) sollten von einem Irrtum (fehlende Einsicht oder Information) unterschieden werden. Es geht nicht darum, nach den Fehlern oder Verursachern zu suchen, sondern darum zu verstehen, warum dieses vermeintlich «falsche» Handeln im Entscheidungsmoment für die Verantwortlichen Sinn gemacht hat. Nur mit dieser Neugier können Kompetenzen entwickelt werden und ist eine Weiterentwicklung möglich.

«Umarme das Unerwartete» bringt es auf den Punkt: Die innere Flexibilität, sich auf eine Beziehung zu einem in die Irre gehenden Sein einzulassen und dann situativ zu entscheiden, trägt sehr zum Wohlbefinden und letztendlich zum Gelingen – oder eben Scheitern bei.

 

Prof. em. Dr. Theo Wehner, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie, ETH Zürich 
Theo Wehner ist seit Oktober 1997 ordentlicher Professor für Arbeits-​ und Organisationspsychologie am Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften und seit Oktober 2015 emeritierter Professor der ETH Zürich und Gastprofessor an der Universität Bremen. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die psychologische Fehlerforschung, das Verhältnis von Erfahrung und Wissen, kooperatives Handeln und psychologische Sicherheitsforschung.

 

«Ja, es geht Sie etwas an!» – Imke Knafla über die Rolle von Führungskräften bei Krisen

Covid hat seine Spuren hinterlassen, wie eine Studie der Uni Bern aus 2022 zeigt: 30% der Arbeitnehmenden fühlen sich ziemlich oder sehr erschöpft. Dies kostet der Schweizer Wirtschaft rund 6.5 Mrd. CHF pro Jahr. Imke Knafla betont die Wichtigkeit von Führungskräften und welche Rolle sie einnehmen müssen, um die psychische Gesundheit ihrer Teams zu erhalten.

Die Zahlen geben Anlass zur Sorge: Die psychische Belastung von Arbeitnehmenden hat während Covid zugenommen und bleibt auch aktuell unverändert hoch. 30% der Arbeitnehmenden fühlen sich ziemlich oder sehr erschöpft, wobei vor allem die junge Generation unter 30 besonders stark betroffen ist.

«Aufgrund des «Spillover»-Effekts ist es nicht relevant, ob die Belastung einen privaten Ursprung hat, da sie früher oder später die Arbeitsleistung beeinflussen wird», führte Knafla dazu aus. Dementsprechend ist es wichtig, dass das Unternehmen und die Führungskräfte sich dem Thema annehmen und Massnahmen ergreifen. Das fängt mit der richtigen Haltung an: Nur wer das Thema «psychische Belastung» am Arbeitsplatz in Betracht zieht und dafür sensibilisiert, kann auch erwarten, dass sich die Mitarbeitenden unterstützen lassen. «Die «Burnout»-Thematik der letzten Jahre hat dazu beigetragen, dass die Aufmerksamkeit für psychische Belastungen mehr gegeben ist», so Knafla.

Den Menschen als Ganzes betrachten
In einem nächsten Schritt geht es darum, die Führungskräfte darin zu schulen, Auffälligkeiten zu erkennen, diese anzusprechen und Unterstützung anzubieten. Der Umgang mit psychisch belasteten Personen erfordert allerdings Geduld und Feingefühl – nicht jede/r Betroffene geht offen damit um und nimmt Unterstützung an. Die Führungskräfte sollten dabei auch nicht nur auf den Erhalt der Arbeitsleistung abzielen, sondern den Menschen als Ganzes betrachten. Ansonsten gilt es, einen engen Kontakt mit der betroffenen Person beizubehalten und das Angebot der Unterstützung aufrechtzuerhalten. Sofern externe Fachpersonen notwendig sind, sollten diese beigezogen werden.

Gelebte Sorgekultur ist zentral
Knafla erachtet auch übergeordnete Massnahmen als wichtig: «Im Idealfall gestalten Unternehmen ihre Unternehmenskultur so, dass die Mitarbeitenden von selbst auf ihre Vorgesetzten zugehen». Um dies zu erreichen, braucht es eine Kultur des Hinsehens (Sorgekultur), gesundheitsfördernde Rahmenbedingungen und eine Vorbildfunktion der Führungskräfte. Nur so kann Vertrauen aufgebaut und gelebt werden.

Der Output kann sich sehen lassen – eine Sorgekultur fördert die Motivation der Arbeitnehmenden und die Fluktuation und Ausfallzeiten verringern sich, was sich letztendlich auch positiv auf den Erfolg des Unternehmens und die volkswirtschaftlichen Folgekosten auswirkt.

 

Prof. Dr. Imke Knafla, Leiterin des Zentrums für Klinische Psychologie & Psychotherapie, ZHAW
Prof. Dr. Imke Knafla ist Co-Leiterin des Zentrums Klinische Psychologie & Psychotherapie am Institut für Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Die eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin, Coach & Supervisorin leitet die psychologische Beratungsstelle der ZHAW.

 

«Die Anerkennung des anderen ist unverwechselbar kostbar» – Giovanni Maio über die Sorgekultur in der heutigen Zeit

Der Bruch bei ausserordentlichen Ereignissen sorge für eine tiefe Verletzlichkeit beim Menschen und teilt sein Leben fortan in ein «davor» und «danach». Die Hilfe und Sorge um die Betroffenen ist essenziell und besteht zuerst einmal aus der richtigen Haltung.

Prof. Dr. Giovanni Maio tritt leise auf. Während seines Vortrags, der ohne jede Präsentation auskam, konnte man ihm buchstäblich beim Denken beobachten. In rund 45 Minuten schälte er die Essenz der Sorge aus seinem Gedankengerüst heraus. Dazu begann er mit der Krise an sich: Diese bricht unangekündigt über einen herein und sorgt für ein Ohnmachtsgefühl. Sie bemächtigt sich der gesamten Aufmerksamkeit, des ganzen Menschen und unterbricht das Leben in seinem täglichen Tun und Sein Damit einher geht eine Erschütterung im Grundvertrauen, oft gepaart von einem Vertrauensverlust in die Welt und einer Hilflosigkeit angesichts der Zukunft. Diese Verletzlichkeitserfahrung ist ausserordentlich und teilt die Welt zukünftig in ein «davor» und «danach».

Krisen radikal entkoppeln
Bevor er in die Sorge als aktives Tun eintauchte, ergründete Maio die Ursachen für diese Verletzlichkeit. Der Mensch ist abhängig von der Welt, die ihn umgibt. Neben der körperlichen Unversehrtheit braucht er Beziehungen, woraus wiederum Anerkennung für das eigene «Ich» resultieren. Die Zeit für dieses «Ich» ist allerdings zeitlich beschränkt und die radikale Endlichkeit des Menschen steht immer im Raum. Bricht eine Krise über den Menschenherein, werden diese Abhängigkeiten und Beziehungen nicht nur unterbrochen, sondern für eine gewisse Zeit auch ausgehebelt.

Anerkennende Sorge heilt
Die aktive Sorge für die Betroffenen kann heilen, wenn sie «richtig» gelebt wird. Neben der offenen und erwartungsfreien Haltung geht es vor allem darum, das Anliegen der Betroffenen zu verstehen und sehr gut zuzuhören. «Sorge ist auch zu verstehen, was der oder die andere braucht und nicht, was ich als Sorgender und Sorgende möchte.» Mit dieser Zuwendung ist auch der notwendige Beziehungsaufbau sehr gut möglich. Für das weitere Gespräch braucht es oft ein Höchstmass an Feingefühl, um die Scham zu überwinden und das Gegenüber in sein Innerstes blicken zu lassen. Sorgende antworten darauf mit einer Unbeirrbarkeit in ihrem Tun und bleiben, bestätigt und unterstützt, solange es sie braucht. «Du bist kostbar», drücken Sorgende aus und bringen den Betroffenen damit das zurück, was sie so sehr brauchen: die Anerkennung als Mensch in seiner Einzigartigkeit.

 

Prof. Dr. Giovanni Maio, Professor für Medizinethik, Universität Freiburg im Breisgau
Giovanni Maio, M.A. (phil., geb. 1964) studierte Medizin und Philosophie an den Universitäten Freiburg, Straßburg und Hagen. Nach seiner Promotion zum Dr. med in Freiburg absolvierte er eine Facharztausbildung für Innere Medizin. Im Jahr 2000 habilitierte er sich an der Universität Lübeck für Ethik und Geschichte der Medizin. 2002 wurde er in die zentrale Ethikkommission für Stammzellenforschung berufen. Seit 2005 ist er Professor für Bioethik und Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und leitet das dortige interdisziplinäre Ethikzentrum.

 

Carelink als «Zuversichts-Stifterin»

Was ist Zuversicht und wie können wir sie fördern und pflegen? Dieses Thema stand im Zentrum der diesjährigen Freiwilligentagung in Glattbrugg. Sie bot viel Inspirierendes und Praktisches.

Fulminant und überraschend war der Einstieg zur diesjährigen Freiwilligentagung vom 17. Juni in Glattbrugg. Mark Riklin, Philosoph und Glücksforscher, lud die rund 100 Teilnehmenden bereits zu Beginn der Tagung dazu ein, sich als TräumerInnen oder RealistInnen zu outen. In einer weiteren Runde notierte er Spontannennungen zu kleineren und grösseren Alltagserfolgen, was eine doch eindrücklich lange Liste ergab. Erstaunlich, wie wenig es braucht für Freude und Glücksmomente: Es reichen ein unbelastetes Aufwachen am Morgen, Kinderfantasien, bereichernde persönliche Beziehungen oder gar Pflanzen-begrünte Bushaltestellen. Positive Momente lassen sich also ohne weiteres finden. «Wer sich stets vor Augen führt, dass die Welt besser ist, als manche denken, verbreitet Zuversicht», so Riklin. Und: «Zuversicht gibt uns Mut, den wir insbesondere auch im Umgang mit Unsicherheiten brauchen».

Die menschliche Verletzlichkeit sei «was uns Sorgen bereitet und zugleich vereint», sagt Prof. Dr. Giovanni Maio. So gebe es bei ausserordentlichen Ereignissen jeweils einen Bruch, der alles erschüttern könne und den viele fürchten würden. In solchen Momenten seien wir unserer Verletzlichkeit ausgesetzt. Über Beziehungen schaffe diese aber auch Brücken, die Sicherheit geben würden. Verletzlichkeit verlange danach, zu sich selbst Sorge zu tragen. Damit einher gehe es, Haltungen zu entwickeln, die dazu taugen würden, «Antworten zu geben und Zuversicht entstehen zu lassen», so der deutsche Philosoph und Medizinethiker.

Prof. em. Theo Wehner erinnerte im Zusammenhang mit dem Thema Zuversicht an Edward A. Murphy: Seine Weisheit steht für die Annahme, dass alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird. Scheitern bedeute unter anderem, Fehler beim Namen zu nennen. Dies stärke im Leben, weil Menschen antizipierende Wesen seien, die zum Perspektivenwechsel fähig seien und dadurch das Verhalten planen und verändern könnten.

Gemäss dem Arbeits- und Organisationspsychologen müssten Mitglieder eines Careteams in der Lage sein, mit Unsicherheit umzugehen und auf Fehler und Enttäuschung zu reagieren. Freiwilligenarbeit in dieser Form sei eine psycho-soziale, sinnstiftende Ressource für das Individuum und «im Grund das soziale Kapital der Gesellschaft». Dabei unterstrich Wehner, dass Anerkennung und Dankbarkeit zur Freiwilligenarbeit motivieren würden. Dies funktioniere aber nur so lange, wie die Arbeit nicht als Verpflichtung wahrgenommen werde.

Zuversicht als zentraler Themenbogen, Freiwilligenarbeit des Careteams als Beitrag zu einer sozialen Gesellschaft und, mittendrin, Carelink als Triebfeder und «Sinnstifterin» – die Freiwilligentagung 2023 bleibt in guter Erinnerung.

Ein wertfreier Umgang mit Emotionen fördert die Gesundheit

Emotionen bringen Farbe in unser Leben – manchmal tröpfchenweise und je nach Ereignis zuweilen auch überflutend. Das wertfreie Annehmen aller Emotionen wirkt stabilisierend und gesundheitsfördernd. Janine Köhli, Notfallpsychologin bei Carelink, beschreibt, wie diese Erkenntnis in der Notfallpsychologie genutzt wird.

Im Alltag werden Emotionen (aus dem Lateinischen «ex movere» für «herausbewegen») oft in positive und negative eingeteilt. Während negative Emotionen, wie Traurigkeit, unerwünscht sind, weil sie uns Energie entziehen, sind positive Emotionen, zum Beispiel Freude, erwünscht. Sie beleben.

Eine solche Wahrnehmung übersieht die psychische Funktion von Emotionen. Denn Emotionen sind nicht von Natur aus gut oder schlecht, sondern haben immer einen Sinn und sind darum wichtig. Als komplexe, prozesshafte Reaktionen auf Ereignisse mobilisieren sie Kräfte, die uns in Richtung unserer Bedürfnisse bewegen. Sie sind wesentlicher Bestandteil des Menschseins und umfassen mehrere Aspekte. Neben einem Gefühl lösen sie auch körperliche und gedankliche Prozesse aus sowie ein Verhalten, welches das bedrohte Bedürfnis sichert. So löst Angst beispielsweise Herzrasen aus, das uns eine Gefahr erkennen und uns in Sicherheit fliehen lässt. Eine Einteilung der Emotionen nach ihrer Erlebnisart in angenehme und unangenehme Emotionen wird ihrer Natur gerechter.

Gemäss Forschungsergebnissen geht es Menschen insgesamt besser, wenn sie ihre unangenehmen Emotionen beachten und als normal anerkennen, anstatt sie zu unterdrücken. Gleichzeitig erweitert das Kultivieren angenehmer Emotionen unsere Wahrnehmung und fördert flexibles Denken, was die Widerstandsfähigkeit stärkt.

Die Daseinsberechtigung aller Emotionen im Sinn eines «Sowohl-als-Auch» trägt wesentlich zur psychischen Gesundheit bei und wird in der Notfallpsychologie eingesetzt. Ausgelöst durch potenziell traumatisierende Ereignisse können Personen von einer Wucht an Emotionen gepackt und durchgeschüttelt werden. Im Gegensatz zur Psychotherapie werden in der Notfallpsychologie solche Emotionen nicht proaktiv angesprochen oder vertieft. Denn das frühe, erzwungene «Durcharbeiten» von Emotionen erschwert eine Stabilisierung und kann Stressreaktionen verstärken, die das Befinden der betroffenen Person zusätzlich verschlechtern. Werden Emotionen allerdings von der betroffenen Person selbst angesprochen, wird auf die Stabilisierung fokussiert:

  • Anerkennen: Emotionen werden gehört und benannt. («Ich höre, Sie haben Angst.»)
  • Erlaubnis geben: Emotionen werden normalisiert und legitimiert. Jedes Gefühl hat einen guten Grund, ist es doch gerade dieses, welches der Person signalisiert, dass sie sich in einer Ausnahmesituation befindet. («Sie dürfen mit Angst reagieren, solche Situationen lösen diese aus.»)
  • Keinen Druck erzeugen: Floskeln, wie «die Zeit heilt», oder unangebrachte Positivität, wie «im Schlechten liegt auch Gutes», werden vermieden. Die Emotionen der Person haben ihre Berechtigung.
  • Zuversicht vermitteln: Durch die Förderung von angenehmer Entlastung und Sicherheit kann die betroffene Person ihren Blick zunehmend für die nächsten, machbaren Schritte öffnen.

In der Notfallpsychologie besteht die emotionale Unterstützung in der Herstellung eines sicheren Rahmens als angenehmes, entlastendes Gegengewicht zur unangenehmen Belastung durch die Ausnahmesituation. Und obwohl Emotionen während des Ereignisses nicht direkt angesprochen werden, stehen diese im Nachhinein häufig im Zentrum dankbarer Rückmeldungen von Betroffenen: Es habe «gutgetan», dass in der Ausnahmesituation jemand für einen da gewesen sei und unvoreingenommen zugehört habe.

Autorin:
Janine Köhli ist Notfallpsychologin bei Carelink und leitet das Ausbildungsangebot Care&Peer Practice (CPP). Sie ist selbstständige Psychotherapeutin. Emotionsfokussierte Techniken ihr Schwerpunkt.

Literatur:
David, S. (2020). Emotionale Beweglichkeit. Für freie Entfaltung mit klarem Blick und offenem Geist. Narayana Verlag.
Hausmann, C. (2021). Interventionen der Notfallpsychologie. Was man tun kann, wenn das Schlimmste passiert. 2. überarbeitete Auflage. Wien: Facultas.

Notfallpsychologische Unterstützung in der Ukraine

35 ukrainische Schulpsychologinnen und -psychologen nahmen jede Woche drei bis vier Stunden lang an webbasierten notfallpsychologischen Trainings und Supervisionen teil. In der Ukraine, teils mitten im Kriegsgebiet. Das Projekt heisst «helping to cope», verkürzt «hope» und hat die Prävention von schweren und langwierigen Trauma-Folgestörungen zum Ziel.

Kurz nach der russischen Invasion baten ukrainische Psychologen die Psychologische Hochschule in Berlin um fachliche Unterstützung. Diese Anfrage ging an die Fachgruppe Notfallpsychologie des Berufsverbands deutscher Psychologinnen und Psychologen. Damaris Braun und Lena Deller-Wessels stellten daraufhin innert kurzer Zeit zusammen mit der AETAS-Kinderstiftung und der Medical School Hamburg ein Pilotprojekt mit notfallpsychologischen und therapeutischen Aspekten für die Ukraine auf die Beine.

Neben psychotraumatologischen Grundlagen wurde grosses Gewicht auf die praktische Umsetzung wie Stressbewältigungstechniken und Fallbearbeitungen gelegt. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die meisten notfallpsychologischen Konzepte nicht auf eine Kriegssituation ausgelegt sind. «Die Frage war, wie können wir die vorliegenden Konzepte bestmöglich auf die ukrainischen Bedürfnisse anpassen?», erklärt Damaris Braun. Dafür waren Erfahrung in der Arbeit mit Kindern in Krisenregionen, aber auch Expertise in kindgerechter Sprache nötig. Allen Beteiligten war ein respektvoller Umgang wichtig.

Die Ukraine hat eine gute schulpsychologische Versorgung – jede Schule verfügt über eine Fachperson. Die Psychologinnen und Psychologen betreuen auch Lehrkräfte. Mit acht Millionen Binnenflüchtlingen und der schon länger schwelenden Kriegssituation sind die Lehrkräfte und psychologischen Dienste sehr belastet. Fragen wie «Wie gestaltet man einen Unterricht, wenn die Klasse in einen Bunker muss?» oder «Wie geht man bei einem Bombenalarm mit Angstzuständen der Schulkinder um?», stehen im Vordergrund.

Bereits im Juni 2022 startete ein Pilotdurchgang mit 35 Teilnehmenden, eine zweite Schulung konnte im Herbst 2022 beginnen. Die Nachfrage war gross. Die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen haben Damaris Braun beeindruckt – «insbesondere der Lernwille und die Offenheit, sich neben dem schwierigen und belastenden Alltag für diese Weiterbildung zu engagieren.» Dieses Projekt wäre ohne ehrenamtliches Engagement nicht möglich gewesen. Die mehrstündigen notfallpsychologischen Online-Trainings und -Supervisionen sind für beide Seiten anstrengend und werden durch eine Dolmetscherin ins Ukrainische übersetzt.

Üblicherweise wird die Notfallpsychologie dann eingesetzt, wenn die körperliche Sicherheit gewährleistet ist. Das ist in einem Kriegsgebiet nicht möglich. «Wir wissen aus anderen Krisenregionen, dass Mütter unter solchen Bedingungen nicht mehr mit ihren Kindern spielen und sich die Eltern-Kind-Interaktion verändert», sagt Damaris Braun. Wie Kindern und Jugendlichen Bindung und Stabilität vermittelt werden können, ist daher zentral. Die Schule übernimmt eine wichtige Rolle. Das beginnt mit der Vermittlung der Information, welche Reaktionen normal sind in einer aussergewöhnlichen Situation, und welche Prinzipien von den Lehrkräften angewendet werden können, um Sicherheit zu vermitteln.

Damaris Braun berührt insbesondere die Dankbarkeit der Teilnehmenden. Das Projekt wirke durch den Austausch und die Anerkennung der Situation ressourcenverstärkend allein dadurch, dass es bestehe, stellt Damaris Braun fest. Über die Aus- und Weiterbildung hinaus will das Projekt so viele Lehrkräfte wie möglich erreichen. An einer Konferenz in der letzten Märzwoche schalteten sich über 300 Fachpersonen aus der Ukraine zu.

Noch ist die Fortführung, bisher von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der Psychologischen Hochschule Berlin sowie der AETAS-Kinderstiftung unterstützt, nicht gesichert. Alle Beteiligten hoffen, dass die Finanzierung für die nächste Aus- und Weiterbildung, die im Herbst 2023 starten soll, erreicht werden kann, denn «der Bedarf ist sehr gross», sagt Damaris Braun.

Weitere Informationen zum Projekt und den Verantwortlichen in der Ukraine und in Deutschland finden Sie hier.