Orientierung in stürmischen Zeiten
Die Mitarbeitenden der AETAS Kinderstiftung sprechen unter anderem von «Leuchttürmen» und «Seefahrenden». Bildhafte Vergleiche werden genutzt, um zu verstehen, einzuordnen und handlungsfähig zu werden. Nicht nur für die kleinen Menschen kann dies hilfreich sein.
Sie weisen im Umgang mit jungen Betroffenen darauf hin, dass traumatische Lebensstürme gesund verarbeitet werden können. Welche Faktoren spielen dabei eine besondere Rolle?
Simon Finkeldei: Wir wissen heute, dass nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch die Situationen vorher und nachher bestimmen, ob ein belastendes Ereignis gut überstanden wird. Es ist also auch relevant, in welcher Verfassung die Betroffe-nen vorher waren. Während des Geschehens gibt es eine Reihe von objektiven und subjektiven Faktoren, die einen Unterschied machen. Zum Beispiel, ob das Ereignis absichtlich durch eine nahestehende Person oder durch ein zufälliges Unglück ausgelöst wurde. Danach kommt es unter anderem darauf an, wie Bezugspersonen sich verhalten, über das Ereignis denken und sprechen. Der Belastungsgrad einer Bezugsperson ist ein weiterer kritischer Faktor dafür, wie gut eine belastende Situation verarbeitet werden kann.
Was verstehen Sie unter der von Ihnen viel zitierten «Leuchtturmarbeit»?
Tita Kern: In unserer Bildsprache sind die Kinder kleine Seefahrende, die normalerweise abenteuerlustig auf den Meeren unterwegs sind und die Welt entdecken. Wenn sie aber in einen Sturm geraten, brauchen sie Leuchttürme. Diese stehen sinnbildlich für Bezugspersonen, die Verbindung und Orientierung anbieten, die signalisieren, dass Seefahrende in Not Hoffnung haben dürfen. Das können Eltern, Patentanten, Lehrkräfte oder andere Fachkräfte sein. In Unternehmen können dies die Vorgesetzten oder HR-Verantwortlichen sein. Die Hauptleuchttürme sind die vertrauten Bezugspersonen. Mit ihnen arbeiten wir in der Krisenintervention sehr eng zusammen. Gerade Kinder sind, wenn etwas Schlimmes passiert, durch ihre Abhängigkeit in einer besonderen Rolle. Sie haben weniger eigenen Spielraum in Akutsituationen und in der weiteren Verarbeitung.
Sie werden sich an ihren Leuchttürmen orientieren, um abzulesen, wie gefährlich es ist, was gerade passiert. Was Bezugspersonen tun und nicht tun, worüber sie sprechen und nicht sprechen, ist für Kinder massgebend. Wenn wir es schaffen, Bezugspersonen möglichst stabil aufzustellen, sodass sie sich sicher fühlen in einer Situation, die für sie selbst auch hoch belastend ist, dann können sie rettende Leuchtfeuer sein.
Zu welchem Zeitpunkt ist die Leuchtturmarbeit am wichtigsten?
Finkeldei: Sie beginnt bereits damit, jederzeit gut vorbereitet zu sein, um im Notfall agieren zu können. Zur Vorbereitung gehört auch, Leuchttürme fortzubilden. Während eines Ereignisses versuchen wir, Situationen zu begrenzen, weil Sicherheit im Kopf nicht davon abhängt, ob draussen geschossen wird oder nicht, sondern wann es sich wieder sicher anfühlt. Auch die Phase danach ist wichtig: Wie kann ein Kind erleben, dass ein schlimmes Ereignis vorbei ist, wenn in den Medien, zu Hause und in der Schule ständig darüber gesprochen wird? Alle Phasen der Betreuung – Vorbereitung, Notfalleinsatz und Begleitung – sind wichtig, um die Betroffenen zu stabilisieren.
In Ihrem Projekt «Kurswechsel» werden verschiedene Metaphern benutzt. Können Sie uns erklären, warum gerade für Kinder bildliche Vergleiche hilfreich sein können?
Kern: Wir arbeiten viel mit Bildern, wie Seefahrerkinder, Leuchtturm, Ruderboot, Kompass, Taschenlampe, Feuerlöscher. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch unser Handwerkszeug. Warum? Weil Menschen in Geschichten denken. Mit solchen Bildern können sie sich einerseits identifizieren, andererseits helfen diese auch, ein bisschen Abstand zu halten. Das ist hilfreich in einer Zeit, wo ohnehin so viel Alarm im Kopf passiert. Wenn die Dinge etwas Abstand haben, kann man leichter zuhören und denken. Unsere Bilder geben den Familien eine gemeinsame Sprache. Sie machen Dinge «besprechbar», die es vorher unter Umständen nicht gewesen sind. Das ist ein wichtiger Schritt raus aus der Hilflosigkeit.
Wie schaffen Sie es als Einsatzkräfte, mit all dem Schweren umzugehen?
Finkeldei: Dazu fällt mir ein schöner Satz von Tita ein: «Belastung braucht Bewegung und Gefühle brauchen Luft.» Durch körperliche Bewegung und gesunde Ernährung kann ich am besten Stress reduzieren. Dabei hilft mir auch das Bild der Alge.
Was meinen Sie mit «Bild der Alge»?
Kern: Algen sind faszinierend. Sie sind sehr tief verwurzelt, haben damit eine unheimliche Stabilität und sie sind gleichzeitig maximal flexibel. Das bedeutet, sich nicht auflehnen gegen das, was gerade geschieht und nicht zu ändern ist, sondern mitgehen. Wir sagen uns: «Ja, diese Dinge passieren. Wie eine Alge gehen wir mit den Stürmen mit und filtern das Wertvolle heraus.»
Wir erleben viele schöne, berührende, wertvolle, beeindruckende Momente, in denen wir merken, dass die Familien es schaffen, wieder einen Fuss vor den anderen zu setzen. Und dass sie grossartige Ideen haben, was helfen könnte. Diese Momente herauszufiltern und behalten zu dürfen, aber das andere auch loslassen und sagen zu können: «So ist das Leben, und da gehe ich mit und leiste meinen Beitrag» – auch das ist das Bild der Alge.
Finkeldei: Die Alge ist jederzeit mit etwas verbunden, das ihr Halt gibt. Das kann der Gedanke an einen ruhigen Feierabend oder liebe Menschen sein, oder auch Spiritualität.
Kern: Man darf Selbstfürsorge nicht dem Zufall überlassen, das muss echtes tagtägliches Handwerkszeug sein.
Was mir persönlich hilft, gesund zu bleiben, ist die tiefe Überzeugung, dass es einen Teil in jedem Menschen gibt, der von Dunkelheit nicht überschattet wird und von dem Heilung ausgehen kann. Mit diesem Teil können wir Verbindung aufnehmen, damit ganz viel wachsen kann, das den Schmerz lindert und die Gesundheit erhält oder wiederherstellt.
Tita Kern ist Psychotraumatologin (M.Sc.), Systemische Familientherapeutin (DGSF) und Traumatherapeutin. Sie ist seit 2013 die fachliche Leiterin der AETAS Kinderstiftung. Als Dozentin lehrt und schreibt Tita Kern zu den Schwerpunktthemen Notfallpsychologie und Traumatherapie.
Simon Finkeldei ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut (VT), Lehrtherapeut und Supervisor. Er ist als psychotherapeutischer Leiter
der AETAS Kinderstiftung tätig und lehrt zu den Themen Krisenintervention/Notfallpsychologie, Suizidprävention und Traumatherapie.
AETAS Kinderstiftung
Die KinderKrisenIntervention der AETAS Kinderstiftung in München unterstützt Kinder, Jugendliche, deren Bezugspersonen und Fachkräfte nach hoch belastenden Lebenserfahrungen. Dazu gehören unter anderem der plötzliche traumatische Tod einer nahen Bezugsperson, das Bezeugen von Suizid oder Suizidversuchen und tragische Unglücksfälle.
Weitere Infos: www.aetas-kinderstiftung.de
Interview: Petra Strickner