Grosse Solidarität nach den Unwettern im Tessin – ein Gespräch mit Caregiverin Eva Ghanfili
Als das Unwetter die Menschen im Misox und später das Maggiatal traf, war Eva Ghanfili für das Care Team Ticino als Caregiverin im Einsatz. Im Interview berichtet sie über ihre Eindrücke vor Ort und über ihre Motivation für die anspruchsvolle Aufgabe.
Frau Ghanfili, welche Situation haben Sie angetroffen, als Sie an den beiden Unglücksorten eintrafen?
Als das Unwetter das Misox traf, hatte ich zufällig Pikett. Zu zweit sind wir am Tag danach hingereist. Vier Menschen wurden noch vermisst und die Bergungs- und Sucharbeiten waren in vollem Gang. Unsere Aufgabe war vor allem die Betreuung von zwei jungen Menschen, die ihre Eltern nicht erreichen konnten. Beim Unwetter im Maggiatal wurden mehrere Orte von der Umwelt abgeschnitten und die Bewohnerinnen und Bewohner mussten per Helikopter ausgeflogen werden. Ich war mit dem Careteam am Landeplatz, um die Betroffenen zu unterstützen.
Was waren die dringendsten Bedürfnisse der Betroffenen?
In erster Linie ging es darum, für die Angehörigen der Vermissten da zu sein und ihnen zu helfen, die Ungewissheit auszuhalten. Es kamen viele Fragen auf, die wir nicht beantworten konnten. Das ist ein wichtiger Grundsatz: Wir geben nur gesicherte Informationen weiter und sprechen immer in der Gegenwartsform, auch wenn wir vom Schlimmsten ausgehen müssen. Praktische Dinge mussten ebenfalls organisiert werden: Kleider, eine Übernachtungsmöglichkeit, die Information von Schule oder Arbeitgeber. Viele Menschen erzählten uns, wo sie gewesen waren, als das Unwetter kam. Einige Jugendliche im Maggiatal waren zum Beispiel an einem Fest und verloren den Kontakt zu ihren Familien. Jemand aus dem Misox sagte mir, sie hätten nur kurz aus dem Fenster geblickt und das Nachbarhaus sei einfach nicht mehr da gewesen.
Haben sich die Bedürfnisse mit der Zeit verändert?
Manche wollten Gegenstände aus den beschädigten Häusern holen, die für sie eine besondere Bedeutung haben. In solchen Fällen versuchen wir, dies möglich zu machen. Wenn eine Todesnachricht eintrifft, geht es vor allem darum, für die Angehörigen da zu sein. Wenn wir aufgeboten werden, begleiten wir sie auch bei der Identifizierung der Opfer. Menschen, die Materielles oder ihr Zuhause verlieren, brauchen auch praktische Unterstützung. Wo erhalten sie frische Kleider? Wo können sie die nächste Zeit wohnen? Müssen sie eine Wohnung suchen?
Was war das Besondere an diesen zwei Einsätzen?
Ich war zum ersten Mal nach einem solch intensiven Unwetter im Einsatz. Es war emotional schwierig, doch mit zunehmender Erfahrung habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich lebe seit 42 Jahren im Tessin und gerade diese Unwetter im Misox und Maggiatal haben mich stark betroffen gemacht. Die Menschen dort sind es gewohnt, dass ab und zu ein Unwetter kommt, aber so etwas hatten die meisten von ihnen noch nie erlebt. Beeindruckt hat mich auch die grosse Solidarität des ganzen Tessins. Es wurde sofort viel gespendet und viele Vereine organsierten Events, um Geld zu sammeln.
Was tun Sie, um Ihre eigene Resilienz zu stärken?
Ich habe viele Jahre als Pflegefachfrau auf der Intensivstation gearbeitet, wo man viel Trauriges erlebt. Ich sage mir: Das ist nicht meine Geschichte, jeder hat sein eigenes Schicksal. Ich vergleiche es mit einem Buch, und als Caregiverin werde ich für kurze Zeit Teil eines solchen Buchs. Wie kann ich in dieser konkreten Situation behilflich sein? Haben sie zu trinken, zu essen, sind sie an einem sicheren Ort, haben sie warm? Ganz wichtig ist auch, auf mich zu hören. Kann ich noch weiter machen oder soll ich mich ersetzen lassen? Wenn ich heimgehe, versuche ich das Erlebte bewusst zurückzulassen. Meistens dusche ich erstmal. Anderen hilft vielleicht eine Umarmung, allein zu sein, zu joggen. Wieder andere wollen viele Menschen um sich haben. Was helfen kann, lernt man in der Ausbildung.
Was war Ihre Motivation für die Carearbeit?
Durch meinen Beruf und auch privat habe ich immer wieder Schicksalsschläge miterlebt. Ich fragte mich: Wie soll ich damit umgehen? Wie kann ich helfen? Weil es im Tessin noch kein kantonales Careteam gab, machte ich eine Ausbildung im Debriefing. Dann stiess ich 2006 auf Carelink, wo ich mich zur Caregiverin ausbilden liess.
Eva Ghanfili absolvierte in Winterthur die Erstausbildung zur Pflegefachfrau. Im Tessin, wo sie seit 42 Jahren lebt, machte sie die Zusatzausbildung zur Intensivpflegefachfrau. Bis Ende Januar 2022 hat sie als solche gearbeitet; unter anderem war sie auch Lokalkoordinatorin für Organspenden. Seit 2006 ist sie im Careteam von Carelink und seit 2014 ist sie Teil des Care Teams Ticino.