Grosse Solidarität nach den Unwettern im Tessin – ein Gespräch mit Caregiverin Eva Ghanfili

Als das Unwetter die Menschen im Misox und später das Maggiatal traf, war Eva Ghanfili für das Care Team Ticino als Caregiverin im Einsatz. Im Interview berichtet sie über ihre Eindrücke vor Ort und über ihre Motivation für die anspruchsvolle Aufgabe.

Frau Ghanfili, welche Situation haben Sie angetroffen, als Sie an den beiden Unglücksorten eintrafen?
Als das Unwetter das Misox traf, hatte ich zufällig Pikett. Zu zweit sind wir am Tag danach hingereist. Vier Menschen wurden noch vermisst und die Bergungs- und Sucharbeiten waren in vollem Gang. Unsere Aufgabe war vor allem die Betreuung von zwei jungen Menschen, die ihre Eltern nicht erreichen konnten. Beim Unwetter im Maggiatal wurden mehrere Orte von der Umwelt abgeschnitten und die Bewohnerinnen und Bewohner mussten per Helikopter ausgeflogen werden. Ich war mit dem Careteam am Landeplatz, um die Betroffenen zu unterstützen.

Was waren die dringendsten Bedürfnisse der Betroffenen?
In erster Linie ging es darum, für die Angehörigen der Vermissten da zu sein und ihnen zu helfen, die Ungewissheit auszuhalten. Es kamen viele Fragen auf, die wir nicht beantworten konnten. Das ist ein wichtiger Grundsatz: Wir geben nur gesicherte Informationen weiter und sprechen immer in der Gegenwartsform, auch wenn wir vom Schlimmsten ausgehen müssen. Praktische Dinge mussten ebenfalls organisiert werden: Kleider, eine Übernachtungsmöglichkeit, die Information von Schule oder Arbeitgeber. Viele Menschen erzählten uns, wo sie gewesen waren, als das Unwetter kam. Einige Jugendliche im Maggiatal waren zum Beispiel an einem Fest und verloren den Kontakt zu ihren Familien. Jemand aus dem Misox sagte mir, sie hätten nur kurz aus dem Fenster geblickt und das Nachbarhaus sei einfach nicht mehr da gewesen.

Haben sich die Bedürfnisse mit der Zeit verändert?
Manche wollten Gegenstände aus den beschädigten Häusern holen, die für sie eine besondere Bedeutung haben. In solchen Fällen versuchen wir, dies möglich zu machen. Wenn eine Todesnachricht eintrifft, geht es vor allem darum, für die Angehörigen da zu sein. Wenn wir aufgeboten werden, begleiten wir sie auch bei der Identifizierung der Opfer. Menschen, die Materielles oder ihr Zuhause verlieren, brauchen auch praktische Unterstützung. Wo erhalten sie frische Kleider? Wo können sie die nächste Zeit wohnen? Müssen sie eine Wohnung suchen?

Was war das Besondere an diesen zwei Einsätzen?
Ich war zum ersten Mal nach einem solch intensiven Unwetter im Einsatz. Es war emotional schwierig, doch mit zunehmender Erfahrung habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich lebe seit 42 Jahren im Tessin und gerade diese Unwetter im Misox und Maggiatal haben mich stark betroffen gemacht. Die Menschen dort sind es gewohnt, dass ab und zu ein Unwetter kommt, aber so etwas hatten die meisten von ihnen noch nie erlebt. Beeindruckt hat mich auch die grosse Solidarität des ganzen Tessins. Es wurde sofort viel gespendet und viele Vereine organsierten Events, um Geld zu sammeln.

Was tun Sie, um Ihre eigene Resilienz zu stärken?
Ich habe viele Jahre als Pflegefachfrau auf der Intensivstation gearbeitet, wo man viel Trauriges erlebt. Ich sage mir: Das ist nicht meine Geschichte, jeder hat sein eigenes Schicksal. Ich vergleiche es mit einem Buch, und als Caregiverin werde ich für kurze Zeit Teil eines solchen Buchs. Wie kann ich in dieser konkreten Situation behilflich sein? Haben sie zu trinken, zu essen, sind sie an einem sicheren Ort, haben sie warm? Ganz wichtig ist auch, auf mich zu hören. Kann ich noch weiter machen oder soll ich mich ersetzen lassen? Wenn ich heimgehe, versuche ich das Erlebte bewusst zurückzulassen. Meistens dusche ich erstmal. Anderen hilft vielleicht eine Umarmung, allein zu sein, zu joggen. Wieder andere wollen viele Menschen um sich haben. Was helfen kann, lernt man in der Ausbildung.

Was war Ihre Motivation für die Carearbeit?
Durch meinen Beruf und auch privat habe ich immer wieder Schicksalsschläge miterlebt. Ich fragte mich: Wie soll ich damit umgehen? Wie kann ich helfen? Weil es im Tessin noch kein kantonales Careteam gab, machte ich eine Ausbildung im Debriefing. Dann stiess ich 2006 auf Carelink, wo ich mich zur Caregiverin ausbilden liess.


 Eva Ghanfili absolvierte in Winterthur die Erstausbildung zur Pflegefachfrau. Im Tessin, wo sie seit 42 Jahren lebt, machte sie die Zusatzausbildung zur Intensivpflegefachfrau. Bis Ende Januar 2022 hat sie als solche gearbeitet; unter anderem war sie auch Lokalkoordinatorin für Organspenden. Seit 2006 ist sie im Careteam von Carelink und seit 2014 ist sie Teil des Care Teams Ticino.


 

Die Stillen nicht vergessen –
Notfallpsychologin Alice Stucky-Schwitter war nach einer Naturkatastrophe für Carelink im Einsatz

Nachdem eine Unterwalliser Gemeinde kürzlich schwer von einem Unwetter getroffen wurde, suchte sie die Unterstützung von Carelink. Im Interview spricht Notfallpsychologin Alice Stucky-Schwitter über den Umgang der Menschen mit einer unmittelbaren Bedrohung, die Rückkehr in den Alltag und über die wichtige Rolle der Behörden.

Sie waren Anfang Juli für uns als Notfallpsychologin im Einsatz. Was war passiert?
Ende Juni und Anfang Juli gab es zwei grosse Unwetter, die auch das Wallis trafen. Unter anderem traf es Gemeinden im Unterwallis, wo unerwartete Murgänge niedergingen. Einige Ortsteile wurden von der Umwelt abgeschnitten, andere waren unmittelbar gefährdet.

Welche Situation haben Sie angetroffen?
Als ich rund eine Woche nach dem Ereignis in einer der betroffenen Gemeinden eintraf, war die unmittelbare Bedrohung vorbei und die meisten Bewohnerinnen und Bewohner waren zurück in ihren Häusern. Es kamen zum Glück weder Mensch noch Tier zu schaden, aber ein Campingplatz und ein Bauernhof können nie mehr betrieben werden. Fachleute und auch Privatpersonen waren mit Aufräum- und Sicherungsarbeiten beschäftigt, und viele arbeiteten auf dem Feld, weil endlich schönes Wetter war. Eine Siedlung aus Einfamilienhäusern, wo vor allem junge Paare und Familien wohnen, war aus Sicherheitsgründen aber immer noch gesperrt.

Wie ging es den Betroffenen?
Die Erste Hilfe durch Zivilschutz, Polizei und Feuerwehr war sehr gut organisiert und die Menschen hatten viel Solidarität und gegenseitige Hilfe erfahren. Das hilft nicht nur in der Not selbst, sondern man zehrt auch später noch davon. Auch wenn die Gefahr vorbei war, spürte man die Angst aber immer noch. Wie geht es weiter? Was passiert beim nächsten Unwetter? Für jene, die bald zurückkehren konnten, war es einfacher, denn sie konnten etwas tun und dabei auch um das Verlorene trauern. Das Abwarten ist viel schwieriger, denn es ist mit einem Gefühl der Ohnmacht verbunden. In der Notfallpsychologie empfehlen wir deshalb immer: Geht zurück in den Alltag und orientiert euch wieder an euren Aufgaben. So kann ein Ausnahmeereignis viel schneller abgeschlossen werden.

Was konnten die Familien tun, die nicht wussten, ob sie jemals zurückkehren können?
Kleine alltägliche Aktivitäten und Gewohnheiten sind dann sehr wichtig. Etwas mit den Kindern machen, einkaufen, kochen. Dies hilft, um nicht ständig über die Situation zu sprechen oder darüber nachzudenken. Das war eine häufige Frage von jungen Müttern: Wie spreche ich mit den Kindern? Was soll ich ihnen erzählen? Wichtig ist es auch, immer wieder die Spannung abzubauen.

Was passiert aus psychologischer Sicht bei so einem Ereignis?
In der akuten Situation sind wir Menschen in einer Alarmsituation. Die Angst löst starke Stressreaktionen im Körper aus, die dem Sichern des Überlebens dienen. Wir kämpfen, fliehen oder sind wie gelähmt. Wenn die unmittelbare Bedrohung vorbei ist, können diese nachwirken in Form von Reaktionen wie zum Beispiel innere Unruhe, Schlaflosigkeit, mangelnde Konzentration, oder Flashbacks. Es ist möglich, dass diese auch erst Tage später auftreten. In den meisten Fällen klingen die Stressreaktionen wieder ab, denn der Mensch ist dafür gemacht zu überleben.

Angesichts der Folgen des Klimawandels dürften in einigen Regionen der Schweiz Unwetter zunehmen. Wie geht es Menschen, die mit der latenten Gefahr leben müssen, weil sie in einer Risikozone leben?
Das Gefühl von Schutz und Sicherheit ist sehr wichtig. Gemeinde und Kanton müssen mit baulichen Massnahmen und Schutzvorrichtungen die Sicherheit so gut wie möglich wieder herstellen und darüber informieren. Auch Privatpersonen können sich auf solche Ereignisse vorbereiten, indem sie zum Beispiel einen Ort haben, wo sie bei Bedarf hingehen können. Es gibt aber Menschen, die das besser aushalten als andere. Ob jemand bleibt oder vielleicht wegzieht, hängt auch davon ab, wie stark jemand mit dem Ort verbunden ist.

Haben Sie beim Einsatz im Wallis neue Erkenntnisse gewonnen?
Nicht eine neue Erkenntnis, aber eine Bestätigung: Wir dürfen die Stillen nicht vergessen, die weiter weg sind vom Geschehen. Nicht vergessen werden heisst, im Kontakt und eingebunden zu sein, Solidarität zu erfahren, Informationen zu erhalten. Viele brauchen keine Hilfe oder haben ein gutes Umfeld. Aber es gibt auch Menschen, die sich in der Not isolieren und im Erlebten erstarren. Im Austausch mit anderen wandelt sich das. Wir sollten speziell auf diejenigen achten, die sich besonders still verhalten.


Alice Stucky-Schwitter ist im Oberwallis aufgewachsen und lebt auf der Bettmeralp. Sie ist seit 40 Jahren mit einem Bergführer verheiratet und der Umgang mit Naturgefahren ist für sie deshalb ein Alltagsthema. Sie hat über 40 Jahre als Psychologin gearbeitet, zuletzt im Ambulatorium des Psychiatriezentrums Oberwallis. Seit 2006 ist sie zertifizierte Notfallpsychologin bei Carelink.


 

SRF «Treffpunkt» zum Thema Careteams

Unser Geschäftsleiter Walter Kaelin war zu Gast bei Dani Fohrler in der SRF-Radiosendung «Treffpunkt». Zusammen mit Irmela Moser vom Careteam Bern sprach er über die Entstehung von Careteams und ihre Unterstützung bei ausserordentlichen Ereignissen.

Die ganze Sendung gibt es hier zum Nachhören.

Resilienz über die Lebensspanne – Myriam V. Thoma über den Umgang mit traumatischen Erlebnissen

 

Resiliente Menschen schaffen es, auch sehr widrige Lebensumstände oder schwere Schicksale zu bewältigen, ohne dass diese tiefe Narben in der Psyche hinterlassen. Resilienz ist abhängig von Faktoren wie dem Selbstwert, dem empfundenen sozioökonomischen Status oder dem Alter. Wichtig ist es auch, traumatische Erfahrungen aufzuarbeiten. Obwohl dies grundsätzlich besser zeitnah geschieht: zu spät ist es dafür nie.

Bilder: Paul Senn, FFV, Kunstmuseum Bern, Dep. GKS, Bern

Wissenschaftler*innen der Universität Zürich haben untersucht, wovon bei ehemaligen Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung, zu denen auch ehemalige Verdingkinder zählen, eine höhere Resilienz abhängt. Die Ergebnisse zeigen, dass diese insbesondere mit einem höheren Selbstwert, einer tieferen Tendenz, negative Emotionen zu empfinden, einem höheren subjektiven sozioökonomischen Status und einem höheren Einkommen verknüpft ist. Auch ein höheres Lebensalter ist ein wichtiger Faktor: Älteren Menschen scheint es aufgrund ihrer grösseren Lebenserfahrung besser als Jüngeren zu gelingen, mit Herausforderungen umzugehen, sich an Veränderungen anzupassen und Krisen zu bewältigen.

Gesundes Altern ist trotz widriger Umstände möglich
Ebenfalls sehr wichtig für die Resilienz ist es, traumatische Erfahrungen aufzuarbeiten. Indem das erlebte Schicksal reflektiert wird und die damit verbundenen Gefühle und erlernten Verhaltens- und Gedankenmuster bearbeitet werden, bleiben die Betroffenen nicht in der Vergangenheit gefangen oder verbittern.
Die Studienresultate zeigen auch, dass gesundes Altern trotz widriger Umstände möglich ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei Leichtherzigkeit, soziales Engagement und die Bemühung um harmonische Beziehungen sowie die persönliche Weiterentwicklung. Es geht nicht darum, das Erlebte schönzureden, sondern in der Gegenwart Momente der Freude und der Dankbarkeit zu finden.

Traumatische Kindheitserlebnisse verjähren nicht
Im Rahmen der Studien haben viele betagte Teilnehmende zum ersten Mal in ihrem Leben über ihr Schicksal gesprochen, weil sie sich für das Erlebte schämten oder das Sprechen darüber für sie zu belastend war. Besser ist es zwar, früher (professionelle) Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber es ist nie zu spät für eine Intervention. Denn unterdrückte traumatische Erfahrungen und negative Emotionen haben nicht nur einen schädlichen Einfluss auf die körperliche und psychische Gesundheit, sondern können sich auch negativ auf das soziale Leben, die Bildung, den Beruf und die finanzielle Situation auswirken.

Psychische Störungen entstigmatisieren
Da der Einfluss traumatischer Kindheitserlebnisse nicht verjährt, müssen Menschen für die Thematik sensibilisiert und psychische Störungen entstigmatisiert werden. Wichtig wäre auch die soziale Anerkennung des Leides, das bestimmte ältere Bevölkerungsgruppen in der Schweiz im 20. Jahrhundert erfahren haben.


Privatdozentin Dr. Myriam V. Thoma arbeitet als Oberassistentin am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Zusammen mit Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker leitet sie die Forschungsgruppe ‘Resilienz’ am Universitären Forschungsschwerpunkt ‘Dynamik Gesunden Alterns’. Ihr Forschungsinteresse gilt vor allem den Themengebieten Psychopathologie, Stress, Trauma sowie Resilienz über die Lebensspanne.

Mehr über Myriam Thoma


Weiterführende Links:

Artikel der Universität Zürich über Verdingkinder

Fachbeitrag in der Zeitschrift Clinical Psychology & Psychotherapy  

Höltge, J., McGee, S. L., Maercker, A., & Thoma, M. V. (2018). Childhood adversities and thriving skills: Sample case of older Swiss former indentured child laborers. The American Journal of Geriatric Psychiatry, 26(8), 886-895.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wie Traumata über Generationen
weitergegeben werden

 

Am 23. Mai fand an der Paulus Akademie in Zürich eine Podiumsdiskussion statt zum Thema «Der Lange Schatten des Traumas». Dr. Rahel Bachem, Forscherin und Psychotherapeutin an der Universität Zürich, und Carelink-Mitarbeiterin Dr. Mareike Augsburger, Notfallpsychologin und Trauma-Expertin, boten vor einem interessierten und aktiven Publikum einen Einblick in die komplexe Welt der transgenerationalen Traumata.

Bild: Paulus Akadamie, Zürich

Die Expertinnen stiegen mit einer Begriffsschärfung ins Thema ein: Was bedeutet «Trauma» aus fachlicher Sicht? Ein Trauma oder fachsprachlich korrekt «potenziell traumatisches Ereignis» ist die Konfrontation mit einem belastenden Ereignis wie einem Unfall, einer Verletzung, Gewalt oder einer Naturkatastrophe. Häufig erleben Betroffene in den ersten Tagen bis Wochen starke Reaktionen. Man ordnet diese ein als völlig normale Reaktionen auf abnormale Ereignisse. In den allermeisten Fällen reduziert sich diese Belastung innert weniger Wochen.

Von einer Traumafolgestörung wie zum Beispiel der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) – umgangssprachlich gerne Traumatisierung genannt – spricht man dann, wenn das Trauma nachhaltige Folgen hat und Betroffene auch Monate später noch starke Auswirkungen auf ihre Gesundheit spüren. Doch obwohl traumatische Ereignisse tiefe und langanhaltende Spuren in der Psyche hinterlassen können, betrifft dies in unseren vergleichsweise privilegierten Breitengraden nur einen Bruchteil der betroffenen Personen. Die allermeisten sind sehr resilient und können ihre belastenden Erfahrungen mittel- bis langfristig gut in ihr Leben integrieren.
Traumata können auch nachfolgende Generationen betreffen Transgenerationale oder intergenerationale Traumata sind psychische Belastungen, die nicht nur Folgen für die direkt Betroffenen eines traumatischen Ereignisses haben, sondern an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Dieser Prozess der Weitergabe beeinflusst das emotionale, psychische und manchmal sogar physische Wohlbefinden der Nachkommen.

Die Podiumsteilnehmerinnen diskutierten verschiedene Mechanismen der Weitergabe:

  • Bindung, Erziehungsstile und Verhaltensmuster: Ungünstige Bewältigungsstrategien können unbewusst an den Nachwuchs weitergegeben werden. Oft sind ungünstige Bindungsstile, ein dysfunktionaler Umgang mit Konflikten und Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung charakteristisch.
  • Emotionale Dysregulation: Personen mit schlecht verarbeiteten traumatischen Erlebnissen haben manchmal Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation von starken negativen Gefühlen wie Wut, Ärger oder auch Angst.
  • Bewertungen und Grundannahmen über die Welt: Traumatisierte Personen haben oft ein erschüttertes Vertrauen in die Welt mit starken negativen Grundannahmen wie «man kann niemandem trauen» oder «die Welt ist ein schlechter Ort».
  • Epigenetik: Die Epigenetik untersucht den Einfluss der Umwelt auf den genetischen Ausdruck. Studien zeigen, dass traumatische Erfahrungen epigenetische Veränderungen verursachen können und diese an den Nachwuchs weitergegeben werden.

Betroffene von transgenerationalen Traumata erleben oft die genannten ungünstigen Verhaltensweisen, Grundannahmen und Bewältigungsstrategien und lernen, ähnliche Muster wie ihre Vorfahren zu entwickeln. Als Folge können eine veränderte Stressreaktion, zwischenmenschliche Probleme und eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Erkrankungen auftreten. Manchmal entwickeln Kinder Symptome einer PTBS, auch wenn sie selbst kein direktes traumatisches Erlebnis hatten, sondern die Auswirkungen der Traumata ihrer Vorfahren spüren.

Klassische Betroffene transgenerationaler Traumata sind unter anderem Nachkommen von Holocaust-Überlebenden, Familien von Kriegsgeflüchteten und Überlebende von schweren Gewaltverbrechen. In diesen Kontexten sind die traumatischen Erlebnisse oft so tiefgreifend, dass sie über Generationen hinweg nachwirken und das Leben der Nachkommen nachhaltig beeinflussen.

Psychologische Unterstützung kann auch für Nachkommen hilfreich sein
Die Expertinnen präsentierten im Anschluss Therapiemöglichkeiten zur Behandlung und die Versorgungssituation in der Schweiz und im Ausland. Während Verfahren der traumafokussierten Psychotherapie bei Betroffenen spezifisch mit PTBS-Symptomatik wirkungsvoll eingesetzt werden, helfen gut etablierte andere Methoden, um transgenerationale Erfahrungen aufzuarbeiten und einen besseren Umgang damit zu finden.

Die Podiumsdiskussion hat eindrucksvoll verdeutlicht, wie vielschichtig und weitreichend das Thema ist. Es bleibt eine wichtige Aufgabe, weiterzuforschen und den Zugang zu Unterstützung weltweit zu verbessern. Ausserdem zeigte die Diskussion, wie wichtig eine frühzeitige Betreuung Betroffener noch in der Akutphase ist, wie dies Carelink tut. So können wir das Risiko der Entstehung von Traumafolgestörungen mindern und langanhaltenden Gesundheitseinschränkungen vorbeugen.

Orientierung in stürmischen Zeiten

Die Mitarbeitenden der AETAS Kinderstiftung sprechen unter anderem von «Leuchttürmen» und «Seefahrenden». Bildhafte Vergleiche werden genutzt, um zu verstehen, einzuordnen und handlungsfähig zu werden. Nicht nur für die kleinen Menschen kann dies hilfreich sein.

Sie weisen im Umgang mit jungen Betroffenen darauf hin, dass traumatische Lebensstürme gesund verarbeitet werden können. Welche Faktoren spielen dabei eine besondere Rolle?

Simon Finkeldei: Wir wissen heute, dass nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch die Situationen vorher und nachher bestimmen, ob ein belastendes Ereignis gut überstanden wird. Es ist also auch relevant, in welcher Verfassung die Betroffe-nen vorher waren. Während des Geschehens gibt es eine Reihe von objektiven und subjektiven Faktoren, die einen Unterschied machen. Zum Beispiel, ob das Ereignis absichtlich durch eine nahestehende Person oder durch ein zufälliges Unglück ausgelöst wurde. Danach kommt es unter anderem darauf an, wie Bezugspersonen sich verhalten, über das Ereignis denken und sprechen. Der Belastungsgrad einer Bezugsperson ist ein weiterer kritischer Faktor dafür, wie gut eine belastende Situation verarbeitet werden kann.

Was verstehen Sie unter der von Ihnen viel zitierten «Leuchtturmarbeit»?

Tita Kern: In unserer Bildsprache sind die Kinder kleine Seefahrende, die normalerweise abenteuerlustig auf den Meeren unterwegs sind und die Welt entdecken. Wenn sie aber in einen Sturm geraten, brauchen sie Leuchttürme. Diese stehen sinnbildlich für Bezugspersonen, die Verbindung und Orientierung anbieten, die signalisieren, dass Seefahrende in Not Hoffnung haben dürfen. Das können Eltern, Patentanten, Lehrkräfte oder andere Fachkräfte sein. In Unternehmen können dies die Vorgesetzten oder HR-Verantwortlichen sein. Die Hauptleuchttürme sind die vertrauten Bezugspersonen. Mit ihnen arbeiten wir in der Krisenintervention sehr eng zusammen. Gerade Kinder sind, wenn etwas Schlimmes passiert, durch ihre Abhängigkeit in einer besonderen Rolle. Sie haben weniger eigenen Spielraum in Akutsituationen und in der weiteren Verarbeitung.

Sie werden sich an ihren Leuchttürmen orientieren, um abzulesen, wie gefährlich es ist, was gerade passiert. Was Bezugspersonen tun und nicht tun, worüber sie sprechen und nicht sprechen, ist für Kinder massgebend. Wenn wir es schaffen, Bezugspersonen möglichst stabil aufzustellen, sodass sie sich sicher fühlen in einer Situation, die für sie selbst auch hoch belastend ist, dann können sie rettende Leuchtfeuer sein.

Zu welchem Zeitpunkt ist die Leuchtturmarbeit am wichtigsten?

Finkeldei: Sie beginnt bereits damit, jederzeit gut vorbereitet zu sein, um im Notfall agieren zu können. Zur Vorbereitung gehört auch, Leuchttürme fortzubilden. Während eines Ereignisses versuchen wir, Situationen zu begrenzen, weil Sicherheit im Kopf nicht davon abhängt, ob draussen geschossen wird oder nicht, sondern wann es sich wieder sicher anfühlt. Auch die Phase danach ist wichtig: Wie kann ein Kind erleben, dass ein schlimmes Ereignis vorbei ist, wenn in den Medien, zu Hause und in der Schule ständig darüber gesprochen wird? Alle Phasen der Betreuung – Vorbereitung, Notfalleinsatz und Begleitung – sind wichtig, um die Betroffenen zu stabilisieren.

In Ihrem Projekt «Kurswechsel» werden verschiedene Metaphern benutzt. Können Sie uns erklären, warum gerade für Kinder bildliche Vergleiche hilfreich sein können?

Kern: Wir arbeiten viel mit Bildern, wie Seefahrerkinder, Leuchtturm, Ruderboot, Kompass, Taschenlampe, Feuerlöscher. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch unser Handwerkszeug. Warum? Weil Menschen in Geschichten denken. Mit solchen Bildern können sie sich einerseits identifizieren, andererseits helfen diese auch, ein bisschen Abstand zu halten. Das ist hilfreich in einer Zeit, wo ohnehin so viel Alarm im Kopf passiert. Wenn die Dinge etwas Abstand haben, kann man leichter zuhören und denken. Unsere Bilder geben den Familien eine gemeinsame Sprache. Sie machen Dinge «besprechbar», die es vorher unter Umständen nicht gewesen sind. Das ist ein wichtiger Schritt raus aus der Hilflosigkeit.

Wie schaffen Sie es als Einsatzkräfte, mit all dem Schweren umzugehen?

Finkeldei: Dazu fällt mir ein schöner Satz von Tita ein: «Belastung braucht Bewegung und Gefühle brauchen Luft.» Durch körperliche Bewegung und gesunde Ernährung kann ich am besten Stress reduzieren. Dabei hilft mir auch das Bild der Alge.

Was meinen Sie mit «Bild der Alge»?

Kern: Algen sind faszinierend. Sie sind sehr tief verwurzelt, haben damit eine unheimliche Stabilität und sie sind gleichzeitig maximal flexibel. Das bedeutet, sich nicht auflehnen gegen das, was gerade geschieht und nicht zu ändern ist, sondern mitgehen. Wir sagen uns: «Ja, diese Dinge passieren. Wie eine Alge gehen wir mit den Stürmen mit und filtern das Wertvolle heraus.»

Wir erleben viele schöne, berührende, wertvolle, beeindruckende Momente, in denen wir merken, dass die Familien es schaffen, wieder einen Fuss vor den anderen zu setzen. Und dass sie grossartige Ideen haben, was helfen könnte. Diese Momente herauszufiltern und behalten zu dürfen, aber das andere auch loslassen und sagen zu können: «So ist das Leben, und da gehe ich mit und leiste meinen Beitrag» – auch das ist das Bild der Alge.

Finkeldei: Die Alge ist jederzeit mit etwas verbunden, das ihr Halt gibt. Das kann der Gedanke an einen ruhigen Feierabend oder liebe Menschen sein, oder auch Spiritualität.

Kern: Man darf Selbstfürsorge nicht dem Zufall überlassen, das muss echtes tagtägliches Handwerkszeug sein.

Was mir persönlich hilft, gesund zu bleiben, ist die tiefe Überzeugung, dass es einen Teil in jedem Menschen gibt, der von Dunkelheit nicht überschattet wird und von dem Heilung ausgehen kann. Mit diesem Teil können wir Verbindung aufnehmen, damit ganz viel wachsen kann, das den Schmerz lindert und die Gesundheit erhält oder wiederherstellt.

Tita Kern ist Psychotraumatologin (M.Sc.), Systemische Familientherapeutin (DGSF) und Traumatherapeutin. Sie ist seit 2013 die fachliche Leiterin der AETAS Kinderstiftung. Als Dozentin lehrt und schreibt Tita Kern zu den Schwerpunktthemen Notfallpsychologie und Traumatherapie.

Simon Finkeldei ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut (VT), Lehrtherapeut und Supervisor. Er ist als psychotherapeutischer Leiter
der AETAS Kinderstiftung tätig und lehrt zu den Themen Krisenintervention/Notfallpsychologie, Suizidprävention und Traumatherapie.

 

AETAS Kinderstiftung
Die KinderKrisenIntervention der AETAS Kinderstiftung in München unterstützt Kinder, Jugendliche, deren Bezugspersonen und Fachkräfte nach hoch belastenden Lebenserfahrungen. Dazu gehören unter anderem der plötzliche traumatische Tod einer nahen Bezugsperson, das Bezeugen von Suizid oder Suizidversuchen und tragische Unglücksfälle.

Weitere Infos: www.aetas-kinderstiftung.de

Interview: Petra Strickner

Positives für ein gelingendes Leben

Die bewusste gedankliche Konzentration auf positive Momente und die Adressierung der entsprechenden Erkenntnisse können dabei helfen, Belastendes besser zu bewältigen. Was sich im Alltag trainieren lässt, kann für das Leben flexibler, offener und belastbarer machen.

Können Sie uns bitte einleitend erklären, was «Positive Psychologie» bedeutet?

Positive Psychologie ist die Wissenschaft vom gelingenden Leben. Lange Zeit hat sich die Psychologie damit beschäftigt, was nicht gut gehen kann im Leben. Es wurde viel Wissen darüber angehäuft, wie man psychische Belastungen erkennt, die Mechanismen dahinter verstehen und beschreiben und wie man versuchen kann, diese zu lindern. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts haben die Forschenden den Blick zunehmend auf folgende Fragen gerichtet: Wie bringt man Menschen von einer Depression in einen Zustand der Nicht-Depression oder von einer traumatischen Erfahrung in einen Zustand von nicht mehr traumatisch belastet? Also in einen Zustand, in dem Menschen ihr Leben als gelingend, freudvoll und zuversichtlich beschreiben. In der Positiven Psychologie verwendet man dafür den Begriff des «Flourishing».

Flourishing?

Ja, genau, die Wissenschaft vom gelingenden Leben. Sie fragt danach, was macht Menschen zuversichtlich, glücklich, hoffnungsvoll und welche Stärken erleben sie dabei in sich? Welche Rolle spielen positive Gefühle, gerade auch angesichts herausfordernder Lebensereignisse? Und wie können Menschen Sinn erleben und gelingende und erfüllende Beziehungen erfahren? Die Antworten auf diese Fragen sind in der Summe die Nährstoffe, die eine Blume für ein Erblühen benötigt – oder Menschen eben zum «Flourishen» bringt.

Wir haben es in der Akutbetreuung mit Menschen zu tun, denen gerade etwas Ausserordentliches widerfahren ist. Angesichts von Belastungen und Leid auf das Positive zu schauen, scheint eine immense Gratwanderung zu sein …

Wenn ein Mensch eine belastende Erfahrung macht, einen Schicksalsschlag erlebt, aus der Bahn geworfen wird, dann ist das erst mal nichts Schönes, nichts Gutes, aber auch nichts Sinnvolles. Das ist ein Schicksalsschlag. Damit Menschen lernen können, mit einer solchen Situation «gut» umzugehen und trotzdem gut weiterzuleben, braucht es eine Erweiterung der Wahrnehmung.

Inwiefern?

Die Wahrnehmung verengt sich angesichts einer Krise normalerweise zu einem Tunnelblick. Negative Reize ziehen unsere Wahrnehmung an, was auch sinnvoll ist. Durch die Fokussierung auf das Bedrohliche rutscht alles, was auch nur ansatzweise schön, erfreulich, zufriedenstellend ist, in den Hintergrund. Zudem haben Betroffene oft auch ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich über ein Vogelzwitschern am Morgen freuen, obschon doch gerade eben Schreckliches passiert ist. Und sie fragen sich oft: Bin ich ein schlechter Mensch, dass ich mich darüber freue? Nein. Dieses Nein zu erkennen, ist exakt der Weg der Heilung und der Weiterentwicklung.

Barbara Fredrickson schreibt in ihrem Buch «Die Macht der guten Gefühle», dass es drei emotional positive Erlebnisse braucht, um ein emotional bedrückendes Erlebnis auszugleichen. Was sagen Sie dazu?

Es geht nicht darum, einem starken negativen Erlebnis ein ebenso starkes positives Erlebnis gegenüberzustellen. Es geht darum, mit vielen kleinen positiven Momenten, den sogenannten «Seifenblasenmomenten», die Verarbeitung von Schicksalsereignissen zu unterstützen. Stellen Sie sich zwei Waagschalen vor: In eine kommen die Gefühle, die unangenehm sind – Angst, Trauer, Sorge, Wut, Verzweiflung. Und in die andere die positiven Gefühle – Freude, Zuversicht, Neugier, Inspiration, Staunen, Liebe. Wenn wir einen Querschnitt über die Zeit machen, wird sich auch in der positiven Waagschale immer etwas finden. Barbara Fredrickson spricht von der täglichen Dosis an positiven Gefühlen. Sie vergleicht dies mit einer gesunden Ernährung: Wenn ich einmal drei Kilo Broccoli esse, werde ich nicht gesünder. Wenn ich aber pro Woche mehrmals Gemüse esse, dann tut das meinem Immunsystem gut.

Sie sprechen von Seifenblasenmomenten. Womit werden Seifenblasen in der Positiven Psychologie in Verbindung gebracht?

Das Gehirn unserer Vorfahren war so ausgelegt, dass es Säbelzahntigern begegnen konnte. Diese «Grundeinstellung» ist erhalten geblieben. Sie führt dazu, dass unangenehme und gefährliche Reize äusserst schnell in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit springen. Wenn wir mit dieser «Werkseinstellung» unangenehmen Emotionen wie Angst, Trauer und Wut ausgesetzt sind, werden wir uns darauf fokussieren. Es ist so, als würde uns ein Tennisball treffen. Das spüren wir, und wir reagieren und werden handlungsbereit. Unsere psychische «Werkseinstellung» regelt jedoch leider positive Emotionen völlig anders. Sie sind nicht so deutlich und schnell da wie Tennisbälle, sondern sie kommen sanfter daher und sind schneller ablenkbar, eben wie Seifenblasen.

Welche Chance habe ich, mich für Seifenblasenmomente zu öffnen, wenn ich von einem Ereignis betroffen bin?

Wir sind unterschiedlich gestrickt und die Frage, wie schnell unser Gehirn auf die negative Spur einschwenkt oder wie viel Offenheit für Seifenblasenmomente da ist, ist auch genetisch mitbedingt. Das hat was mit Reizschwellen, Hirnstruktur, aber auch ganz viel mit der eigenen Biografie zu tun.

Was meinen Sie damit?

Ich umschreibe es mal so: Es kann entscheidend sein, ob ich mitten auf dem Tennisplatz oder an dessen Rand aufgewachsen bin, wo es zwischendurch auch Seifenblasenmomente gab, die wertgeschätzt wurden. Diese Aspekte können präventiv, zum Beispiel bei der Erziehung, einbezogen werden. Beispielsweise kann man mit den eigenen Kindern nach der Schule am Mittagstisch oder abends beim Ins-Bett-Bringen nicht nur darüber reden, was heute «doof» war, sondern auch auf schöne und erfreuliche Tageserlebnisse hinlenken. Wenn ich gleichzeitig wahrnehme, dass etwas schön ist, und ich mich darüber freue, dann kann ich das potenzieren. Dann gerät dieser Seifenblasenmoment quasi ins «Scheinwerfer- licht», er wird wesentlicher. Mein Gehirn lernt dadurch, solche Momente wichtig zu nehmen, und ich kann damit Widerstandskraft aufbauen. Es gibt Forschungsergebnisse, die zeigen, dass resiliente Menschen positive Emotionen nutzen, um nach Belastungssituationen wieder auf das vorherige Level an psychischer Leistungsfähigkeit zurückzufedern. Das kann als Strategie betrachtet werden, um aus schwierigen Situationen rauszukommen.

Kann man das auch selbst trainieren?

Ja. Wir können Seifenblasenmomente sammeln. Und wir können in unserem Leben Seifenblasenschonraumzonen einrichten, in denen wir Fragen stellen wie: «Was war heute schön, worüber habe ich mich gefreut, was hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert?» Auch wenn es viele «Tennisbälle» gibt und gab, ist es ausser Zweifel, dass auch kleinere oder grössere Seifenblasenmomente da sind, die es wahrzunehmen gilt. In diesem Sinn unterstützen Interventionen der Positiven Psychologie. Sie eröffnen der «Werkseinstellung» unseres Gehirns eine alternative «Parallelspur». Und damit werden wir handlungsflexibler, weil uns positive Gefühle zu anderen Handlungen bereit machen, also nicht zu Flucht, Kampf oder Einfrieren, sondern zur Exploration, zum Rausgehen, zum sozialen Kontakt. Und damit zum Neuen, zum Lernen. So können wir uns entwickeln und wachsen.

 

Mögliche Übung am Tagesende

1. Frage: Was war heute schön?
2. Frage: Wie habe ich dazu beigetragen, dass ich das als schön erlebt habe?

 

 

Dr. Daniela Blickhan, Dipl.-Psych., MSc, studierte Psychologie in Würzburg, Positive Psychologie in London und promovierte in Positiver Psychologie an der FU Berlin. Sie ist akkreditiert als Lehrtrainerin und Lehrcoach (DCV, DACH-PP, DVNLP). Daniela Blickhan leitet seit 1991 das Inntal Institut und hat seit 2013 den Vorsitz im Deutschsprachigen Dachverband für Positive Psychologie. Veröffentlichungen: «Positive Psychologie – ein Handbuch für die Praxis» (Junfermann, 2018), «Positive Psychologie im Coaching» (Junfermann, 2021 – Preis «bestes Coachingbuch 2021/22»)

Kontakt: www.inntal-institut.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Interview: Petra Strickner

Schutz und Selbstschutz auf allen Ebenen

Im Einklang mit unseren Werten und unserer Haltung haben wir für unsere Kundinnen und Kunden sowie für unsere Careteam-Mitglieder «Schutzkriterien» festgelegt.

Das «Würde-Konzept» des Psychologen und Politikwissenschaftlers Stephan Marks nennt vier entscheidende Faktoren für ein zufriedenes Leben in Würde: Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität. Diese Faktoren sind unverzichtbar für das Funktionieren einer gemeinschaftlichen Beziehung, sei es im Vorfeld, während oder nach einem Einsatz.

 

Quellen:
Marks Stephan: «Die Würde des Menschen ist verletzlich» und «Scham, die tabuisierte Emotion».

 

Das Grundbedürfnis nach Anerkennung
Menschen brauchen Anerkennung, um zu gedeihen – ähnlich wie Pflanzen Licht benötigen. Anerkennung in der Krisenintervention bedeutet: Ich nehme wahr, dass etwas Schlimmes passiert ist.

Vor dem Einsatz werten wir das Wissen und die Erfahrungen unserer Teammitglieder in Schulungen und Übungen auf. Während des Einsatzes ist es wichtig, den Betroffenen Anerkennung für die Schwere des Ereignisses zu geben und ihre Reaktionen zu respektieren. Unsere Haltung dabei ist, dass Menschen grundsätzlich in der Lage sind, Krisen zu überstehen und schwere Schicksalsschläge zu verarbeiten. Im Nachhinein werden Einsätze auf Teamebene durch verschiedene Methoden anerkannt, um die Qualität und Entwicklung zu fördern. Dies kann in der Form von Einsatznachgesprächen, Fallbesprechungen oder Supervisionen geschehen.

Auf der Unternehmensebene könnte die Haltung «Wir sind in einer ‹nicht normalen› Situation, und wir als Arbeitgebende sind für euch da» ein Signal in die angezeigte Richtung senden.

Das Grundbedürfnis nach Schutz
Wenn schützende körperliche oder seelische Grenzen verletzt wurden, können Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht oder Scham entstehen.

Wir schulen den Umgang mit Nähe und Distanz, um unsere persönlichen Grenzen zu wahren und die unserer Schutzbefohlenen wahrzunehmen. Die vorbereitenden Seminare stehen hauptsächlich im Kontext der Beantwortung folgender Fragen: Wie nahe darf ich einer Person körperlich kommen, wie verhält es sich bei Kindern und wie schütze ich mich oder die Betroffenen im Falle einer physischen Grenzüberschreitung? Die Freiwilligkeit der Einsätze dient zudem dem Schutz der einzelnen Teammitglieder. Ich muss als Caregiver nicht in den Einsatz, wenn ich gerade selbst belastet bin. Und ich muss als Notfallpsychologin oder Notfallpsychologe nicht in den Einsatz, wenn eine Nähe zur eigenen Biografie besteht, zum Beispiel wenn meine Kinder gleich alt sind wie die Betroffenen.

Während und nach dem Einsatz werden sowohl psychische als auch physische Schutzräume bereitgestellt, um die Sicherheit der Beteiligten auf unterschiedlichen Ebenen zu gewährleisten. Zum Beispiel werden Orte für Entlastungsgespräche organisiert, die nicht exponiert sind. Bei öffentlichkeitswirksamen Geschehnissen schützen wir die Betroffenen und unser Team vor neugierigen Blicken durch Passanten und Presse. Es besteht zudem selbstverständlich strengste Schweigepflicht. Auch Auftraggeber dürfen nicht über den Inhalt persönlicher Gespräche informiert werden.

Vorgesetzte und HR-Verantwortliche sind nach einem ausserordentlichen Ereignis besonders gefordert. Wer im Team braucht jetzt besonderen Schutz? Wie gehen wir mit heiklen Themen um? Wie schaffen wir trauerfreie Räume und Zeiten? Diese Fragen zu stellen und entsprechende Massnahmen zu ergreifen bzw. sich entsprechende fachliche Hilfe zu holen, zeichnet gelingendes Krisenmanagement aus und lohnt sich auch mittel- und langfristig.

Das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit
Einen Menschen in seiner Würde zu unterstützen, bedeutet, ihm Zugehörigkeit zu vermitteln.

Dem Wunsch nach Zugehörigkeit scheint die Arbeit in einem Careteam entgegenzukommen. Gemäss unserer letztjährigen Careteam-Umfrage fühlen sich die Mitglieder als Teil eines Netzwerkes, das ihre Normen und Werte teilt, und die geleistete Arbeit trägt zur eigenen Sinnstiftung bei.

Während der Hilfeleistungen sollten Betroffene von uns angehalten werden, so bald als möglich Kontakt zu ihren Hauptbezugspersonen herzustellen. Das ist umso wichtiger, je jünger die Betroffenen sind! Wir wissen, dass sich Menschen durch das besondere Erleben in einer Katastrophe sehr isoliert fühlen können. Dasein und aushalten hilft und vermittelt die zentrale Botschaft: «Du bist nicht allein!».

Nach dem Ereignis können Unternehmen und Arbeitskolleginnen und -kollegen dabei helfen, dass das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit weder in personaler noch in struktureller Weise verletzt wird. Wenn beispielsweise «Schwäche» nicht als schändlich angesehen wird, werden sich Betroffene nicht ausgeschlossen fühlen und auch eher Unterstützung suchen und bekommen.

Das Grundbedürfnis nach Integrität
Wenn ein Mensch seinen eigenen Werten nicht gerecht wurde und sich vor sich selbst schämt («Gewissensscham»), kann dies zu einer Verletzung der Integrität führen. Dabei geht es, gemäss Marks, nicht um die Erwartungen und Normen der anderen, sondern um die eigenen Werte.

Das heisst, den Mitgliedern unseres Careteams muss es möglich sein, ihre Fachkompetenz nach bestem Wissen und Gewissen einzusetzen. Das erfordert vor, während und nach dem Einsatz ein hohes Mass an Reflexion, Anpassung und Abgleich mit der Einsatzleitung, mit dem Auftraggeber und nicht zuletzt mit den eigenen (moralischen) Ansprüchen.

Moralisch richtiges Handeln beinhaltet auf der Unternehmerseite, dass Care-Massnahmen nicht als lästige Pflicht angesehen werden, sondern in der Grundhaltung verankert sind. Ehrlich gemeinte Sorge um die Mitarbeitenden multipliziert sich und schafft eine Kultur des Vertrauens und der Wertschätzung, womit wir wieder bei der Anerkennung wären.

Petra Strickner ist Diplompsychologin, systemische Therapeutin, Notfallpsychologin und Supervisorin. Für Carelink ist sie seit 2012 als Notfallpsychologin im Einsatz. Seit 6 Jahren leitet sie das Freiwilligenteam.

 

 

 

 

 

 

Wer anderen hilft, lebt glücklicher

An negativen Nachrichten mangelt es zurzeit nicht. Wir können das Unglück in der Welt nicht beseitigen und trotzdem glücklicher leben. Die Forschung bestätigt, was wir möglicherweise aus eigener Erfahrung kennen: Helfen stimmt positiv.

Leid, Krieg, Zerstörung … die Medien sind voll davon. Es ist unvorstellbar, was Menschen einander, der Natur und anderen Lebewesen antun. Manch einer verliert die Hoffnung beim Blick in die täglichen Nachrichten. Und doch – das ist nur die halbe Wahrheit. Ja, es gibt viel Schreckliches auf dieser Welt, aber es gibt auch Menschen, die sich für andere einsetzen und viel dafür tun, um Gutes in diese Welt zu bringen. Menschen engagieren sich für andere, helfen und unterstützen, wo sie nur können – privat und beruflich, bezahlt und unbezahlt.

In diesem Beitrag soll der Blick explizit auf das Positive gerichtet werden, ohne dabei Schwierigkeiten und Belastungen zu bagatellisieren. Resilienzorientierung neben Leidorientierung – wie sie von der bekannten deutschen Psychiaterin und Traumatherapeutin Luise Reddemann eingefordert wird.

Wir wissen aus der Forschung, dass soziale Unterstützung einer der wichtigsten Faktoren ist, der eine Erholung, um nicht zu sagen «Heilung», nach traumatischen Erlebnissen ermöglicht. So soll es in diesem Beitrag um die Personen gehen, die diese soziale Unterstützung leisten – die Helferinnen und Helfer. Wir gehen der Frage nach, warum sich Helfen gut anfühlt, ob helfende Personen die «besseren Menschen» sind und wie Helfen Glücksgefühle produziert.

Warum sich Helfen gut anfühlt

Helfen ist anstrengend und kann belasten. Dennoch engagieren sich tausende Menschen ehrenamtlich bei Rettung oder Feuerwehr, arbeiten in ihrer Freizeit als Lehrpersonen, Fussballtrainer, Chorleiterinnen, begleiten sterbende Menschen u.v.m. Warum machen wir das, häufig sogar unbezahlt?

Der deutsche Sozialwissenschaftler und Glücksforscher Jürgen Schupp vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erklärt, dass Freizeitaktivitäten, die der Gemeinschaft dienen, wesentlich mehr Zufriedenheit bringen als beispielsweise eine Gehaltserhöhung. Macht Geld also doch nicht glücklich? Laut dem deutschen Sozialpsychologen Hans-Werner Bierhoff belegen Studien, dass Menschen, die Freunde, Verwandte oder Nachbarn unterstützten oder den Lebenspartner pflegten, ein signifikant reduziertes Sterblichkeitsrisiko aufwiesen. Und zwar unabhängig von Alter oder sozialer Einbindung. Umgekehrt, also für die Personen, die Unterstützung erhielten, galt das jedoch nicht. Auch für die Freiwilligenarbeit ist gut belegt, dass diese die Lebenszufriedenheit erhöht. Anderen Menschen zu helfen, fühlt sich also nicht nur gut an, sondern trägt auch wesentlich zum persönlichen Wohlbefinden und der Lebenszufriedenheit bei. Helfen, so Bierhoff, steigere zudem das Selbstwertgefühl. Da man in Übereinstimmung mit seinen Einstellungen handelt, komme ein Kreislauf der Selbstverstärkung in Gang. Man macht die Erfahrung, etwas bewirken zu können, und das steigere das Selbstwertgefühl.

Sind Helfende die besseren Menschen?

Die Motive, zu helfen, also sich altruistisch zu verhalten, sind vielfältig. Faktoren wie soziale Verantwortlichkeit, Mitgefühl mit leidenden Lebewesen und das Erleben von Selbstwirksamkeit spielen dabei eine Rolle, aber auch Schuldgefühle, das Gefühl, etwas zurückgeben zu wollen, oder Fairness. Ist

Helfen tatsächlich Ausdruck von Altruismus, oder machen wir das nur, um uns selbst besser zu fühlen ob der Ungerechtigkeit der Welt oder um uns von unseren eigenen Problemen abzulenken?

Der amerikanische Psychologe Daniel Batson hat sich mit genau dieser Frage auseinandergesetzt und unterscheidet zwei Motivationssysteme, die dem Helfen zugrunde liegen: das altruistische und das egoistische Motivationssystem. Bat- son und Mitarbeitende formulierten die Empathie-Altruismus-Hypothese, der zufolge Menschen nur dann altruistisch handeln, wenn sie Empathie empfinden. Durch Empathie wird Besorgnis um jemanden ausgelöst, was dazu führt, dass wir uns um diese Personen kümmern. Hilfeverhalten kann aber auch ohne Empathie stattfinden und durch das egoistische Motivationssystem aktiviert werden. Das wäre dann der Fall, wenn wir helfen, um unser persönliches Unbehagen zu reduzieren. Helfen wir jedoch aus egoistischen Gründen, stellen wir eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung auf: Wir wählen jene Handlungsalternative, welche die niedrigsten Kosten und die grösste Belohnung verspricht. Es kann also sein, dass wir die Fluchtmöglichkeit wählen, wenn wir uns unbeobachtet glauben, obwohl eine Person unsere Hilfe benötigt (beispielsweise bei einem Autounfall). Überwiegt jedoch die empathische Besorgnis, werden wir eher helfen, auch wenn wir eine ein- fache Fluchtmöglichkeit hätten. Während bei empathischer Besorgnis Gefühle wie Wärme, Weichherzigkeit oder Mitgefühl vorherrschen, fühlt man sich bei persönlichem Unbehagen alarmiert, beunruhigt und niedergedrückt, wenn man mit dem Leid des Opfers konfrontiert wird. Die Empathie-Altruismus-Hypothese wurde durch zahlreiche Experimente empirisch belegt.

Helfen produziert Glücksgefühle

Helfen kann zu positiven Gefühlen bei der helfenden Person führen. Ähnlich wie sportliche Betätigung («Runner’s High») kann Helfen zum sogenannten «Helper’s High» führen. Neurowissenschaftler aus den USA fanden heraus, dass bei Freiwilligenarbeit oder Spendentätigkeit dasselbe Hirnareal aktiviert wird, das auch bei anderen freud- und lustvollen Tätigkeiten wie Sex oder Essen reagiert. Man spricht auch vom Belohnungssystem im Gehirn. Dieses Hirnareal, mesolimbisches System genannt, schüttet dabei die sogenannten «Feelgood»-Neurotransmitter wie Oxytocin und Vasopressin aus. Das hat zur Folge, dass sich Menschen beim Helfen tatsächlich gut fühlen und diesen Zustand wieder herbei- führen möchten. Spannend dabei ist, dass das entsprechende Hirnareal schon allein durch das Denken an eine wohltätige Tätigkeit aktiviert wird. Man kann also sagen: Helfen produziert Glücksgefühle, stärkt das Immunsystem und reduziert Stress.

Dr.in Johanna Gerngroß ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin sowie Notfallpsychologin. Sie unterrichtet an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und leitet Universitätslehrgänge zu Notfall- und Traumapsychologie. Zudem ist sie Geschäftsführerin einer Unternehmensberatung (COMMITMENT Institut®), Buchautorin und in freier Praxis tätig.

«Umarme das Unerwartete!» – Theo Wehner über die Kultur des Scheiterns

Das Scheitern als Chance: Prof. em. Dr. Theo Wehner spricht sich für eine Kultur des Scheiterns aus, die «alles erwartet und somit nie enttäuscht werden kann».

Mit Michel Foucaults Zitat «Das Leben ist, was zum Irrtum fähig ist», stieg Prof. em. Dr. Theo Wehner fulminant in sein Referat über «das Scheitern» ein. Denn die persönliche Einstellung und das tatsächliche Verhalten weisen Differenzen auf: das Handeln ist zwar vorhersagbar, aber nicht determiniert. Die Differenz zwischen dem gewünschten und tatsächlichen Ergebnis – in diesem Fall der Grad der Zielverfehlung – führt zu unerwarteten Ereignissen.

Permanente Unsicherheit akzeptieren
Der Mensch kann diese mit den richtigen Strategien gut bewältigen. Dies hängt stark von seiner Situation, seinem Interesse, der jeweiligen Erwartung und letztendlich seinem Willen ab. «In der heutigen Wissensgesellschaft handeln wir permanent unter Unsicherheit», so Wehner. Die Unsicherheit als akzeptierter Normalzustand hilft, sich flexibel auf Unvorhersehbares einzustellen und die neue Situation rascher anzunehmen.

Aus Fehlern lernen
In Unternehmen spricht man dabei von einer gelebten Fehlerkultur, die vor allem eine Frage der Haltung ist. Ein Fehler (wider besseren Könnens und Wissens) sollten von einem Irrtum (fehlende Einsicht oder Information) unterschieden werden. Es geht nicht darum, nach den Fehlern oder Verursachern zu suchen, sondern darum zu verstehen, warum dieses vermeintlich «falsche» Handeln im Entscheidungsmoment für die Verantwortlichen Sinn gemacht hat. Nur mit dieser Neugier können Kompetenzen entwickelt werden und ist eine Weiterentwicklung möglich.

«Umarme das Unerwartete» bringt es auf den Punkt: Die innere Flexibilität, sich auf eine Beziehung zu einem in die Irre gehenden Sein einzulassen und dann situativ zu entscheiden, trägt sehr zum Wohlbefinden und letztendlich zum Gelingen – oder eben Scheitern bei.

 

Prof. em. Dr. Theo Wehner, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie, ETH Zürich 
Theo Wehner ist seit Oktober 1997 ordentlicher Professor für Arbeits-​ und Organisationspsychologie am Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften und seit Oktober 2015 emeritierter Professor der ETH Zürich und Gastprofessor an der Universität Bremen. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die psychologische Fehlerforschung, das Verhältnis von Erfahrung und Wissen, kooperatives Handeln und psychologische Sicherheitsforschung.