Notfallpsychologische Unterstützung in der Ukraine

35 ukrainische Schulpsychologinnen und -psychologen nahmen jede Woche drei bis vier Stunden lang an webbasierten notfallpsychologischen Trainings und Supervisionen teil. In der Ukraine, teils mitten im Kriegsgebiet. Das Projekt heisst «helping to cope», verkürzt «hope» und hat die Prävention von schweren und langwierigen Trauma-Folgestörungen zum Ziel.

Kurz nach der russischen Invasion baten ukrainische Psychologen die Psychologische Hochschule in Berlin um fachliche Unterstützung. Diese Anfrage ging an die Fachgruppe Notfallpsychologie des Berufsverbands deutscher Psychologinnen und Psychologen. Damaris Braun und Lena Deller-Wessels stellten daraufhin innert kurzer Zeit zusammen mit der AETAS-Kinderstiftung und der Medical School Hamburg ein Pilotprojekt mit notfallpsychologischen und therapeutischen Aspekten für die Ukraine auf die Beine.

Neben psychotraumatologischen Grundlagen wurde grosses Gewicht auf die praktische Umsetzung wie Stressbewältigungstechniken und Fallbearbeitungen gelegt. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die meisten notfallpsychologischen Konzepte nicht auf eine Kriegssituation ausgelegt sind. «Die Frage war, wie können wir die vorliegenden Konzepte bestmöglich auf die ukrainischen Bedürfnisse anpassen?», erklärt Damaris Braun. Dafür waren Erfahrung in der Arbeit mit Kindern in Krisenregionen, aber auch Expertise in kindgerechter Sprache nötig. Allen Beteiligten war ein respektvoller Umgang wichtig.

Die Ukraine hat eine gute schulpsychologische Versorgung – jede Schule verfügt über eine Fachperson. Die Psychologinnen und Psychologen betreuen auch Lehrkräfte. Mit acht Millionen Binnenflüchtlingen und der schon länger schwelenden Kriegssituation sind die Lehrkräfte und psychologischen Dienste sehr belastet. Fragen wie «Wie gestaltet man einen Unterricht, wenn die Klasse in einen Bunker muss?» oder «Wie geht man bei einem Bombenalarm mit Angstzuständen der Schulkinder um?», stehen im Vordergrund.

Bereits im Juni 2022 startete ein Pilotdurchgang mit 35 Teilnehmenden, eine zweite Schulung konnte im Herbst 2022 beginnen. Die Nachfrage war gross. Die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen haben Damaris Braun beeindruckt – «insbesondere der Lernwille und die Offenheit, sich neben dem schwierigen und belastenden Alltag für diese Weiterbildung zu engagieren.» Dieses Projekt wäre ohne ehrenamtliches Engagement nicht möglich gewesen. Die mehrstündigen notfallpsychologischen Online-Trainings und -Supervisionen sind für beide Seiten anstrengend und werden durch eine Dolmetscherin ins Ukrainische übersetzt.

Üblicherweise wird die Notfallpsychologie dann eingesetzt, wenn die körperliche Sicherheit gewährleistet ist. Das ist in einem Kriegsgebiet nicht möglich. «Wir wissen aus anderen Krisenregionen, dass Mütter unter solchen Bedingungen nicht mehr mit ihren Kindern spielen und sich die Eltern-Kind-Interaktion verändert», sagt Damaris Braun. Wie Kindern und Jugendlichen Bindung und Stabilität vermittelt werden können, ist daher zentral. Die Schule übernimmt eine wichtige Rolle. Das beginnt mit der Vermittlung der Information, welche Reaktionen normal sind in einer aussergewöhnlichen Situation, und welche Prinzipien von den Lehrkräften angewendet werden können, um Sicherheit zu vermitteln.

Damaris Braun berührt insbesondere die Dankbarkeit der Teilnehmenden. Das Projekt wirke durch den Austausch und die Anerkennung der Situation ressourcenverstärkend allein dadurch, dass es bestehe, stellt Damaris Braun fest. Über die Aus- und Weiterbildung hinaus will das Projekt so viele Lehrkräfte wie möglich erreichen. An einer Konferenz in der letzten Märzwoche schalteten sich über 300 Fachpersonen aus der Ukraine zu.

Noch ist die Fortführung, bisher von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der Psychologischen Hochschule Berlin sowie der AETAS-Kinderstiftung unterstützt, nicht gesichert. Alle Beteiligten hoffen, dass die Finanzierung für die nächste Aus- und Weiterbildung, die im Herbst 2023 starten soll, erreicht werden kann, denn «der Bedarf ist sehr gross», sagt Damaris Braun.

Weitere Informationen zum Projekt und den Verantwortlichen in der Ukraine und in Deutschland finden Sie hier.

Wie geht ein Careteam bei einem Notfall vor?

Schnell vor Ort zu sein, ist das eine – den Betroffenen rasch ein Verständnis der Situation zu ermöglichen, das andere. Regula Lanz, bei Carelink als Notfallpsychologin verantwortlich für die Aus- und Weiterbildung, hat für Penso, die Zeitschrift für HR, Sozialversicherungen und Personalvorsorge, die Arbeitsweise von Careteams erklärt. Hier eine Zusammenfassung.

Wird in den Medien über einen schweren Unfall berichtet, dann häufig mit dem Zusatz, dass ein Careteam im Einsatz stehe. Doch wie geht ein Careteam vor, wenn es auf ein aussergewöhnliches Ereignis trifft?

Unmittelbarkeit oder zeitliche Nähe sind ebenso wichtig wie eine professionelle Organisation. Aus diesem Grund haben grössere Unternehmen wie die SBB oder Fluggesellschaften selbst Mitarbeitende ausgebildet, um bei einem Notfall Unterstützung leisten zu können. Die meisten Firmen greifen im Bedarfsfall jedoch auf professionelle Organisationen wie z. B. Carelink zurück. «Care» ist dabei Teil eines umfassenden Krisen- und Notfallplans.

Mögliche Notfallsituationen in Unternehmen sind Unfälle, Überfälle oder Suizide. Diese Ereignisse erschüttern die betroffenen Menschen ebenso wie medienwirksame Massenkarambolagen, Terroranschläge oder ein Flugzeugabsturz, wie Regula Lanz erklärt.

Der Auftrag an das Careteam, ob Klein- oder Grossereignis, ist grundsätzlich der gleiche. Auf eine Analyse vor Ort folgen die Empfehlungen zur Unterstützung, die mit den Auftraggebenden abgestimmt werden. Erstes Ziel ist die Entlastung und Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der Betroffenen. Die Herausforderung besteht darin, dass Menschen unter extremem Stress häufig völlig anders reagieren, als sie erwarten.

«Wir helfen dabei, wieder Struktur, Sicherheit und Ruhe zu finden», sagt Regula Lanz. Das bedeutet bei einem ausserordentlichen Vorfall, dass die Menschen eine Art roten Faden durch die Ereignisse finden – also ein Verständnis davon, was vorgefallen ist. Mit einem Gespräch über das Ereignis und dessen Ablauf kann die Erregung gemindert werden und die Verarbeitung Schritt für Schritt beginnen. «Die Menschen können sich beruhigen, indem sie über das Geschehene sprechen», erläutert Regula Lanz. Das Careteam unternimmt immer so viel wie nötig, um die Betroffenen zu ermächtigen, selbst entscheiden zu können.

Mittelfristig gilt es zu vermeiden, dass Menschen als Folge des Ereignisses posttraumatische Belastungsstörungen oder Ängste, Sucht und Depressionen entwickeln. Daher gibt es nach einer psychologischen Notfallbetreuung mindestens einen sogenannten Call-Back, einen Nachfolgekontakt. Wenn die Betroffenen über andauernde Probleme wie beispielsweise Schlafstörungen klagen, wird eine therapeutische Begleitung erforderlich, welche die Notfallpsychologie nicht leisten kann. Carelink unterstützt hier mit der Vermittlung von entsprechenden Kontakten.

Den ganzen Beitrag und praktische Take-Aways zum Einsatz von Careteams finden Sie in der Penso-Ausgabe 02/2023 und hier.

Hilft Care bei der Wiedereingliederung nach Schicksalsschlägen? Eric Sigrist kennt beide Bereiche.

Vertrauen ist für Eric Sigrist der Schlüssel zu einem guten Gespräch und «manchmal braucht es nicht viel». Als Caregiver kann er von seinem beruflichen Rucksack als Wiedereingliederungsfachmann profitieren. Umgekehrt fliessen die Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten Menschen in seine tägliche Arbeit ein.

Wieso engagierst du dich als Wiedereingliederungsfachmann als Caregiver?

Seit 25 Jahren bin ich in der Arbeitsintegration tätig. In meiner täglichen Arbeit treffe ich oft auf Menschen, die lebenseinschneidende Ereignisse erlebt haben und Mühe bekunden, diese zu verarbeiten. Mein Anliegen als Caregiver ist es, direkt nach einem solchen Erlebnis betroffene Menschen in einer schwierigen Situation zu entlasten.

Welche Unterschiede gibt es zwischen deiner täglichen Arbeit und Einsätzen als Caregiver?

Die Herangehensweise ist nicht dieselbe, weil die Situation eine andere ist. Als Caregiver befinde ich mich unmittelbar in einem Ereignis; in der Beratung im Wiedereingliederungsprozess liegt ein mögliches traumatisches Ereignis schon etwas länger zurück.

Worin besteht die besondere Herausforderung?

Als Caregiver bin ich gefordert, innert kurzer Zeit Vertrauen und eine tragfähige Beziehung aufzubauen, damit sich Betroffene ernst genommen fühlen und sich für ein Gespräch öffnen. Vertrauen ist die Basis, um einen Menschen zu motivieren über das Erlebte zu sprechen und ein gutes Gespräch entstehen zu lassen.

Hilft dir dabei dein Erfahrungsrucksack als Wiedereingliederungsfachmann?

Ja, im Wiedereingliederungsprozess erlebe ich manchmal Menschen, die noch leiden. Sie fühlen sich nicht gut, sind psychisch angeschlagen, auch wenn das belastende Ereignis weit zurückliegt. Der Aufbau der Selbstwirksamkeit und die Förderung des Selbstvertrauens sind dann wichtig.

Gibt es eine Lücke zwischen dem Einsatz als Caregiver und der Wiedereingliederung?

Wie Menschen mit belastenden Situationen umgehen, ist abhängig von deren Resilienz. Das persönliche Umfeld ist wichtig, aber auch die Unterstützung von psychiatrischen und psychologischen Fachpersonen sowie Arbeitgebenden. Was viele nicht wissen: Die IV bietet Massnahmen zur Wiedereingliederung bei einer Rückkehr an den Arbeitsplatz an. Es gibt leider Arbeitgebende, die eine Kündigung aussprechen, weil sie uneingeschränkt leistungsfähige Mitarbeitende bevorzugen.

Was ist die Schwierigkeit bei der Reintegration mit einer psychischen Beeinträchtigung?

Im Gegensatz zu einer körperlichen Beeinträchtigung ist die psychische nicht unmittelbar sichtbar. Die Unsichtbarkeit erschwert es Arbeitgebenden, eine Person zu integrieren. Es kommt daher auch auf die betroffene Person an, wie sie selbst mit der eigenen Gesundheitssituation umgeht.

Fehlt es an Verständnis für die Herausforderungen einer Arbeitsintegration?

Ich bespreche mit Arbeitgebenden, was zu erwarten ist und welche möglichen Herausforderungen aufgefangen werden müssen. Zentrale Fragen sind, was am Arbeitsplatz umsetzbar ist und was nicht.

Was befähigt dich, als Caregiver tätig zu sein?

Es geht darum, den Menschen wieder Sicherheit und Orientierung zu vermitteln und mit Zuversicht vorwärtszuschauen. Mir wird nachgesagt, dass ich Ruhe ausstrahle. Als Caregiver muss man Ruhe vermitteln können oder versuchen, eine solche zu schaffen. Zudem ist uneingeschränkte Offenheit wichtig. Die Arbeit als Caregiver ist sehr ressourcenorientiert und wiederermächtigend. Hierfür ist es hilfreich, innert kürzester Zeit Vertrauen aufbauen zu können.

Du hast ein Buch über Vertrauensbildung geschrieben. Wie schafft man solche?

Ich versuche, in der Betreuung und Beratung offen auf die Menschen zuzugehen. Sie sollen spüren, dass ich mit ihnen vorurteilslos ins Gespräch gehe. Es soll ein sicherer Raum geschaffen werden, in dem Emotionen und Schamgefühle ihren Platz finden. Es sind kleine Dinge, die das Vertrauen bilden.

Zu guter Letzt: Was gibt dir die Aufgabe als Caregiver?

Ich denke nicht darüber nach, was es mir bringt, sondern darüber, was ich in einer schwierigen Situation beitragen kann, um unterstützend und entlastend einzuwirken. Bei meinem ersten Einsatz habe ich mit zwei Männern je ein halbstündiges Gespräch geführt. Echtes Interesse, aktives Zuhören und Empathie haben dazu geführt, dass sie mir nach dem Gespräch mitgeteilt haben, dass ihnen das «Darüber-Sprechen» gutgetan und entlastend gewirkt habe. Das war für mich ein Aha-Erlebnis. Manchmal braucht es nicht viel.

 

Eric Sigrist ist seit 25 Jahren in der Arbeitsintegration tätig sowohl als Berufs- und Laufbahnberater als auch als Wiedereingliederungsfachmann, aktuell bei der Invalidenversicherung. Als Autor hat er sich mit der «Vertrauensbildung und Beziehungsgestaltung in der psychosozialen Beratung» befasst. Er engagiert sich seit 2018 bei Carelink als Caregiver. Seit Sommer 2022 hat er die Funktion eines Teamleaders im Einsatz.

Notfallpsychologie und Spiritualität

Die Bedeutung von Spiritualität in der Betreuung nach ausserordentlichen Ereignissen. Hier werden Kopf und Bauch verbunden und treffen mitten ins Herz.

Wie geht Selbstfürsorge? Andi Zemp zeigt Wege auf.

Personen mit Führungsfunktion müssen nicht zuletzt sich selber führen. Indem sie sich treu bleiben und auf Ausgleich achten, sorgen sie für sich selbst. Wie geht das genau? Andi Zemp* macht dazu ein paar einfache, einleuchtende Gedankengänge.

Banal gefragt, Herr Zemp: Gibt es ein Rezept, wie Vorgesetzte für sich selbst und ihr eigenes Wohlergehen sorgen können?

Andi Zemp: Egal ob Führungskraft oder nicht: Jeder Mensch sollte lernen, für sein psychisches Wohlbefinden selbst zu sorgen. Dafür braucht es unter anderem einen Ausgleich zur Arbeit, und dabei geht es gemäss meiner Erfahrung weniger um die vielzitierte Work-Life-Balance als vielmehr um die Balance zwischen Spannung und Entspannung: Wer sich privat entspannen kann, steckt beruflichen Stress besser weg. Wenn hingegen die private Situation angespannt ist, weil es zum Beispiel in der Partnerschaft hapert oder ein Familienmitglied intensiver Pflege bedarf, sollte zum Ausgleich die berufliche Arbeit entspannend wirken.

Können Vorgesetzte denn überhaupt entspannend arbeiten?

Andi Zemp: Machen wir uns nichts vor: Viele Vorgesetzte haben Phasen in ihrem Arbeitsleben, in denen weniger läuft. Dadurch haben sie sehr wohl Möglichkeiten zum Entspannen. Auf jeden Fall können sie ihre Arbeitsbelastung eher selber regulieren und Aufgaben auch delegieren. Das können Untergebene nicht oder zumindest nicht im gleichen Ausmass.

Was, wenn eine vorgesetzte Person ihrerseits eine vorgesetzte Person hat? Das ist ja im mittleren Management so.

Andi Zemp: Solche Sandwich-Positionen sind zugegeben am schwierigsten. Personen im mittleren Management sehen sich Erwartungen von oben und von unten ausgesetzt, und nicht zuletzt stellen sie auch Erwartungen, manchmal überhöhte, an sich selbst.

Und wie geht jemand nun mit diesem Druck um?

Andi Zemp: Grundsätzlich: Wer die eigenen Bedürfnisse kennt und ihnen Raum gibt, kann am besten mit Druck, Ansprüchen, Erwartungen und Stress umgehen. Konkret gilt es zu unterscheiden zwischen Person und Funktion: Ich als Person brauche Raum, und ich mache meine Arbeit auf meine Art. Ich bin als Mensch einzigartig und – entgegen der gängigen Floskel – nicht ersetzbar. Meine Funktion hingegen, die kann auch jemand anders ausüben.

Diese Haltung setzt allerdings ein gesundes Selbstbewusstsein voraus.

Andi Zemp: Ja, Selbstbewusstsein ist hilfreich. Selbstbewusstsein lässt sich allerdings auch entwickeln, so es daran mangeln sollte.
Viele Menschen ziehen ihr Selbstbewusstsein fast ausschliesslich aus der Arbeit. Doch der Selbstwert darf nicht nur von der Arbeit abhängen. Der Selbstwert hat primär nichts mit Leistung zu tun! Ein einfaches Beispiel aus dem Privatleben: Man mag eine Person nicht, weil sie vielleicht gut kocht, sondern weil sie ist, wie sie ist. Wir kommen alle als Originale auf die Welt und sind einzigartig. Bei manchen Menschen habe ich den Eindruck, dass sie – bewusst oder unbewusst – viel unternehmen, um als Kopien zu sterben. Dabei sollten wir bei uns und damit Originale bleiben. Das ist die Aufforderung, und das ist zugleich die Herausforderung.

Und wenn das jemand allein nicht schafft?

Andi Zemp: Dafür gibt es Hilfe – man muss nicht immer gleich zum Psychotherapeuten oder zur Psychologin gehen. Ich kenne beispielsweise eine männliche Führungskraft, die geht alle zwei Wochen in die Körpertherapie. Dieser Mann merkt dadurch schnell, ob er bei sich ist, sich spüren und sich entspannen kann. Im Stress entwickelt der Mensch einen Tunnelblick, und er beraubt sich dadurch jeglicher Möglichkeit zum Entspannen. Sich hingegen etwas zuliebe tun, etwas für sich zu machen und abzuschalten, das öffnet die Sinne.

Viele gehen deshalb joggen!

Andi Zemp: Bewegung ist auf jeden Fall gut. Joggen kann aber auch sehr kompetitiv sein, wenn man gegen die Uhr joggt. Wer sich sonst schon in einem wettbewerbsgetriebenen, stressigen Umfeld bewegt, tut sich damit nichts Gutes. Den Fehler machen viele. Dem Körper ist es letztlich egal, ob der Stress positiv oder negativ ist. Er schüttet einfach Stresshormone aus. Entgegen der landläufigen Vorstellung macht der Psyche auch zu viel positiver Stress etwas aus.

Fazit: Auf sich zu hören und sich selbst wertzuschätzen, ist der erste und wichtigste Schritt zur Selbstfürsorge.

*Andi Zemp: Absolut! In Umfragen unter Mitarbeitenden beklagen sich oft viele über einen Mangel an Wertschätzung. Die vorgesetzte Person kann dieses Feedback in den wenigsten Fällen verstehen. Dabei müssen beide, Vorgesetzte wie Untergebene, unterscheiden lernen: Wertschätzung bezieht sich auf die Person, Lob auf die Arbeit. Im Extremfall kann ich eine Person loben, ohne sie wertzuschätzen. Die Wertschätzung beginnt bei einem selbst.

Andi Zemp ist Psychologe, Notfallpsychologe und eidg. anerkannter Psychotherapeut FSP. Er betreibt in Bern seine eigene psychotherapeutische Praxis und arbeitet als Vertrauenspsychologe für verschiedene Unternehmen und Organisationen. Seit 2005 wirkt er im Freiwilligenteam von Carelink mit. Zudem ist er Dozent für Notfallpsychologie in der Aus- und Weiterbildung «Care&Peer Practice» (CPP), die Carelink im Auftrag des Koordinierten Sanitätsdienstes (KSD) organisiert und koordiniert.

 

Wie wir belastete Jugendliche unterstützen können

Corona, Klimawandel, Krieg: Kaum ist das eine überstanden, kommt anderes wieder hervor und Neues dazu. Gerade Jugendliche und junge Erwachsene in Ausbildung können darunter leiden.

Waren sie schon vorher in Schwierigkeiten, hat die Pandemie diese möglicherweise noch verstärkt. Und wie finden sie jetzt wieder heraus? Was können ein Lehrmeister, eine Lehrmeisterin, eine Lehrkraft oder Eltern generell für sie tun? Eveline von Arx, Notfallpsychologin bei Carelink und Erziehungswissenschaftlerin, empfiehlt ein offenes Auge und ein offenes Ohr: Sehen, wer leidet, aktiv auf die betreffende Person zugehen, Zeit zum Zuhören anbieten: «Ich bin da, wenn du reden möchtest.» Eveline von Arx macht uns Mut, Jugendliche anzusprechen und für sie erreichbar zu sein. Mehr dazu in ihrem Gespräch mit Patrick Rohr.

Ukraine: Damit das Verarbeiten gelingt.

Das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) in Wabern bei Bern geht davon aus, Menschen aus der Ukraine zu behandeln. Silvan Holzer, Fachbereichsleiter Traumafolgestörungen Kinder und Jugendliche, hält im Interview auch Tipps parat, wie sich zum Beispiel Gastfamilien verhalten sollen.

Herr Holzer, Sie erwarten Flüchtende aus der Ukraine, die bei Ihnen Hilfe suchen.

Silvan Holzer: Ja, leider müssen wir davon ausgehen, dass Ukrainerinnen und Ukrainer aller Altersgruppen Erfahrungen haben machen müssen, welche die individuellen und familiären Bewältigungsstrategien übersteigen. Diese Menschen entwickeln möglicherweise eine Traumafolgestörung.

Stellen sich da die gleichen Herausforderungen wie bei anderen Kriegsopfern?

Silvan Holzer: Unsere Unterstützung wird davon abhängen, was die Menschen, die zu uns kommen werden, individuell erlebt haben und wie sie persönlich damit umgehen. Allerdings können wir die Auswirkungen der erstmaligen Anwendung des S-Status, des Schutzbedürftigen-Status, nicht abschätzen. Einerseits dürfte dieser den Stress nach der Flucht mildern. Doch wie werden Menschen, denen dieser Schutzstatus nicht zuteilwird, damit umgehen?

Auch Menschen in der Schweiz werden mit Menschen aus der Ukraine zusammentreffen. Gibt es Tipps im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten?

Silvan Holzer: Es gibt nicht «die Flüchtlinge aus der Ukraine» und erst recht nicht ein Patentrezept für den Umgang mit «Flüchtlingen». Jedes Kind, jeder Erwachsene, jede Familie ist einzigartig, und die Bedürfnisse sind unterschiedlich. Was jedoch alle brauchen: ein wertschätzendes, emotional stabiles Gegenüber, Sicherheit, klare Strukturen. Die Begegnung erfordert Zeit, Geduld und Verständnis – keine Sonderbehandlung, kein Mitleid, sondern ein sensibles Mit- und Einfühlen.

Zeigen Sie Interesse am Kind und an seinem Leben, lassen Sie zu, dass es nach seinem Bedürfnis erzählt, und akzeptieren Sie, wenn es z.B. plötzlich spielen will. Fragen Sie bei Schilderungen nicht recherchierend nach. Seien Sie Zeuge, beziehen Sie klar Stellung gegenüber jeglicher Form von Gewalt. Wenn Sie sich sicher und kompetent fühlen – und nur dann –, fragen sie nach, was oder wer in dieser Situation geholfen hat, im weitesten Sinne zu überleben.

Eine zeitnahe Wiederherstellung einer Alltagsnormalität ist für die Kinder wichtig – und damit auch eine schulische Struktur. Diese sollte Normalität vermitteln ohne zu grosse Entscheidungsfreiheit – obwohl gut gemeint, könnte sie überfordern. Die Schule kann rasch zu einem sicheren Ort werden, indem die Kinder gleiche Rechte und Pflichten haben wie alle anderen und gegenüber Diskriminierung und Gewalt eine Null-Toleranz-Kultur besteht.

Wir müssen uns bewusst sein, dass die Sorgen, die Ängste und die Ohnmacht der Menschen aus der Ukraine bei ihrer Ankunft in der Schweiz nicht enden werden. Sie werden sich um geliebte Familienmitglieder, Verwandte und Freunde sorgen, die zurückgeblieben sind. Sie werden sich medial informieren wollen. Es besteht das Risiko einer Omnipräsenz des Kriegs. Wenn immer möglich sind deshalb medienfreie Sequenzen hilfreich. Schützen Sie Kinder gegenüber medialen Bildern des Kriegs, ohne das Gespräch über den Konflikt zu vermeiden. Empfehlenswert ist, entwicklungsangemessen mit den Kindern darüber zu sprechen und ihre Fragen kurz und klar zu beantworten. Hilfreich ist auch, wenn es Eltern bzw. Müttern gelingt, eigene starke Gefühle wie z.B. Trauer als normale menschliche Reaktionen zu erklären, die wieder weniger werden. Damit wissen die Kinder, dass es Platz hat für ihre Neugier, dass sie sich nicht um die Eltern oder die Mutter sorgen müssen, dass sie keine Angst haben müssen, sie zu verlieren, sondern dass sie verlässlich für die Kinder da sind.

 

Wertvolle Informationen:
Broschüren
– Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in Schulen, Kindergärten und Freizeiteinrichtungen, H. Shah, Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (www.ztk-koeln.de)
– Trauma bei Kindern und Jugendlichen, M. Dreiner, Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (www.ztk-koeln.de)
– Trauer bei Kindern und Jugendlichen. Für alle, die mit trauernden Kindern und Jugendlichen zu tun haben. H. Brüggenmann & M. Schweichler, Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (www.ztk-koeln.de)
– TRAUMA – Was tun? Damit Sie sich nicht mehr so hilflos fühlen müssen. M. Dreiner Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (www.ztk-koeln.de)
– Wenn das Vergessen nicht gelingt. Informationen zur Posttraumatischen Belastungsstörung. Schweizerisches Rotes Kreuz (www.migesplus.ch)
– Mehr wissen, besser verstehen, bewusster handeln. Informationen für hauptamtliche und freiwillige Mitarbeitende, die mit traumatisierten Geflüchteten zusammentreffen. Schweizerisches Rotes Kreuz (www.migesplus.ch)

Bücher
– Weil du mir so fehlst, ein Bilderbuch fürs Abschiednehmen, Vermissen und Erinnern von A. Boss & A. Klammt
– Leuchtturm sein. Trauma verstehen und betroffenen Kindern helfen. T. Kern. Kösel
– Erste Hilfe für traumatisierte Kinder. A. Kürger. Patmos
– Powerbook. Erste Hilfe für die Seele. Trauma – Selbsthilfe für junge Menschen. A. Krüger. Elbe und Krüger
– Winstons Wish, Zehn Rechte für trauernde Kinder und Jugendliche

Der Ort auch für Menschen aus der Ukraine

Menschen, die Krieg oder Schlimmes auf der Flucht erlebt haben, erhalten im Ambulatorium des Schweizerischen Roten Kreuzes in Wabern bei Bern psychotherapeutische Hilfe. Im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK, kurz Ambulatorium SRK, werden in Zukunft wohl auch traumatisierte Personen aus der Ukraine behandelt werden. Carelink hat mit Silvan Holzer gesprochen. Er ist Fachbereichsleiter Traumafolgestörungen Kinder und Jugendliche.

Herr Holzer, woher stammen die Menschen, die zu Ihnen kommen?

Silvan Holzer: Wir behandeln Menschen unabhängig ihrer Herkunft, ihrer Ethnie oder ihres Aufenthaltsstatus. Es sind Kinder, unbegleitete Minderjährige, Erwachsene und Familien, die aufgrund traumatischer Ereignisse im Herkunftsland, während der Flucht oder durch Stress nach ihrer Migration psychisch erkranken.

Wir arbeiten in einem interprofessionellen Team. Es besteht aus medizinisch und psychologisch geschulten Fachleuten sowie aus Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Im vergangenen Jahr haben wir 214 Menschen eine traumafokussierte Therapie- und Sozialberatung angeboten. Sie stammten mehrheitlich aus Syrien, Afghanistan, dem Iran, dem Irak, der Türkei, Sri Lanka und ostafrikanischen Ländern wie Eritrea und Somalia. Diese Zusammensetzung könnte sich dieses Jahr mit Blick auf den Krieg in der Ukraine verschieben.

Wie verständigen Sie sich?

Silvan Holzer: Es ist wichtig, dass die Menschen ihre Gefühle, Sorgen und Ängste in der Muttersprache ausdrücken können. Deshalb finden zwei von drei Terminen mit einer interkulturell dolmetschenden Person im Trialog statt. Ohne sie könnten wir einen Grossteil unserer Arbeit nicht leisten. Ich erlebe ihre Unterstützung als starke fachliche und persönliche Bereicherung. Dank ihnen können wir den verständlicherweise vorsichtigen, zurückhaltenden und auch misstrauischen Menschen helfen, Vertrauen zu fassen und eine Zukunftsperspektive zu entwickeln.

Führen Krieg und Flucht immer zu einem Trauma?

Silvan Holzer: Faktoren wie die Vorbelastung, eigene Ressourcen zum Verarbeiten, aber auch die Ressourcen des Umfelds entscheiden mit, ob jemand nach einem traumatischen Ereignis eine Traumafolgestörung entwickelt. Ein Kausalzusammenhang zwischen Krieg, Flucht und Trauma besteht nicht, aber je mehr traumatische Ereignisse eine Person erlebt, umso eher entwickelt sie eine Traumafolgestörung. Besonders verletzlich sind Kinder, da sie in Entwicklung begriffen und in existenzieller Weise von ihren Bezugspersonen abhängig sind. Die Folgen einer frühkindlichen Traumatisierung können unbehandelt ein Leben lang belasten.

Von welchen Krankheiten sprechen wir?

Silvan Holzer: Wir unterscheiden zwischen klassischer posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS). Die klassische PTBS ist deutlich besser erforscht, weshalb wir über verschiedene evidenzbasierte therapeutische Verfahren verfügen. So kann ein Monotrauma, also eine einmalige, überwältigende Erfahrung, relativ gut behandelt werden, und es geht oft mit einer günstigen Heilungsprognose einher.

Unsere Patientinnen und Patienten im Ambulatorium SRK erfüllen dagegen häufig die Kriterien einer komplexen PTBS: Sie leiden nicht nur unter den Symptomen der PTBS, sondern auch unter Schwierigkeiten im Umgang mit belastenden oder unangenehmen Gefühlen wie beispielsweise Ärger oder Trauer, einem negativen Selbstbild und Problemen in der Beziehungsgestaltung. Eine komplexe PTBS birgt unbehandelt ein hohes Risiko einer Chronifizierung und beeinträchtigt sämtliche Lebensbereiche.

Können Sie ein Beispiel geben, wie sich eine komplexe PTBS im Alltag äussert?

Silvan Holzer: Kinder und Jugendliche mit einer komplexen PTBS haben z.B. signifikant häufiger Lernschwierigkeiten. Lernfortschritte sind nur verlangsamt oder kaum möglich, und Lerninhalte werden weniger gut abgespeichert. Auch die Interaktion mit Lehrpersonen und der Kontakt zu Peers sind beeinträchtigt. Ein neunjähriges Mädchen aus Syrien hat mir erklärt, es sei besser, keine neuen Freundschaften zu schliessen, weil diese sowieso abbrechen oder diese Menschen verloren gehen würden. Solches Leid kann mit der Ankunft in der Schweiz nicht zwangsläufig enden.

Welche zusätzliche Unterstützung kann nebst der Therapie auch noch hilfreich sein?

Silvan Holzer: Die Menschen brauchen einen sicheren, geschützten Ort und, neben dieser Möglichkeit, sich zurückzuziehen und ungestört zu sein, soziale Partizipation mit einer sinnhaften Tagesstruktur und möglichst viel Normalität. Kinder brauchen schulische Angebote und in die Wochenstruktur integrierte, regelmässige Freizeitangebote. Auch freie Spiel- und Spasszeit, um unbeschwert zu sein, ist wichtig. Jugendliche brauchen Unterstützung, um eine realistische Zukunftsperspektive zu entwickeln. Das ist zentral in diesem Alter.

Das alles geht nicht ohne verlässliche Bezugspersonen. Unsere Sozialberatung ist ein Baustein in der psychischen Stabilisierung unserer Patientinnen und Patienten – zusammen mit wissensvermittelnden, körpertherapeutischen und allenfalls pharmakologischen Bausteinen.

Wie beziehen Sie Angehörige in die Therapie mit ein?

Silvan Holzer: Die primären Bezugspersonen haben die oftmals schier unglaubliche Flucht geschafft, weil ihnen die Hoffnung auf eine friedliche und gute Zukunft für ihre Kinder die nötige Kraft gegeben hat. Sie können sich sicher vorstellen, dass diese Eltern nun nicht selten zweifeln an ihren getroffenen Entscheidungen oder mit Schuld- und Schamgefühlen ringen. Natürlich sind sie selber auch von den Ereignissen betroffen und können darunter leiden. Sie sind es zugleich aber auch, die die Lebensgeschichte und die Persönlichkeit ihrer Kinder am besten kennen und uns von den Veränderungen berichten können. Deshalb beziehen wir die Eltern von Beginn an aktiv in die Behandlung der Kinder ein. Wir sind gegenüber primären Bezugspersonen und Erziehungsberechtigten in allen Kooperationen, ihren Fragen und unseren Empfehlungen transparent. Wir möchten die Eltern, wenn immer möglich stärken, damit sie für ihre «kleinen Seefahrer», wie die Psychotraumatologin und Autorin Tita Kern sie liebevoll bezeichnet, verlässlich wegweisende Leuchttürme sein oder wieder werden können.

Lesen Sie weiter, vor allem wenn Sie Menschen aus der Ukraine bei sich aufnehmen werden oder bereits aufgenommen haben. Silvan Holzer gibt Ihnen einige Verhaltensregeln mit auf den Weg: Ukraine: Damit das Verarbeiten gelingt.

Ratgeber für Flüchtlingshelfer und Gastfamilien

Wie kann ich Geflüchteten helfen?

Damit Menschen ihre möglicherweise traumatischen Erlebnisse verarbeiten können, sollten sie sich sicher und aufgehoben fühlen. Sie können ihnen dabei helfen.

Broschüre als PDF

Ukraine – Wie umgehen mit dem Schrecken

Psychologen geben Ratschläge zur Stressbewältigung im
Zusammenhang mit dem Konflikt.

Die Bilder und Berichte, die uns aus der Ukraine erreichen, sind für alle schwer zu ertragen. Wie man aus der Ferne diese Eindrücke bewältigen kann, beschreibt die American Psychological Association in ihrem Beitrag «How to handle the trauma of war from afar». Der Artikel zeigt auf, wie die konkrete Unterstützung von Flüchtenden, aber auch die Selbstfürsorge und kontrollierte Mediennutzung wichtig sind in dieser ausserordentlichen Zeit. Wir haben den Artikel für Sie übersetzt.

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