Die bewusste gedankliche Konzentration auf positive Momente und die Adressierung der entsprechenden Erkenntnisse können dabei helfen, Belastendes besser zu bewältigen. Was sich im Alltag trainieren lässt, kann für das Leben flexibler, offener und belastbarer machen.
Können Sie uns bitte einleitend erklären, was «Positive Psychologie» bedeutet?
Positive Psychologie ist die Wissenschaft vom gelingenden Leben. Lange Zeit hat sich die Psychologie damit beschäftigt, was nicht gut gehen kann im Leben. Es wurde viel Wissen darüber angehäuft, wie man psychische Belastungen erkennt, die Mechanismen dahinter verstehen und beschreiben und wie man versuchen kann, diese zu lindern. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts haben die Forschenden den Blick zunehmend auf folgende Fragen gerichtet: Wie bringt man Menschen von einer Depression in einen Zustand der Nicht-Depression oder von einer traumatischen Erfahrung in einen Zustand von nicht mehr traumatisch belastet? Also in einen Zustand, in dem Menschen ihr Leben als gelingend, freudvoll und zuversichtlich beschreiben. In der Positiven Psychologie verwendet man dafür den Begriff des «Flourishing».
Flourishing?
Ja, genau, die Wissenschaft vom gelingenden Leben. Sie fragt danach, was macht Menschen zuversichtlich, glücklich, hoffnungsvoll und welche Stärken erleben sie dabei in sich? Welche Rolle spielen positive Gefühle, gerade auch angesichts herausfordernder Lebensereignisse? Und wie können Menschen Sinn erleben und gelingende und erfüllende Beziehungen erfahren? Die Antworten auf diese Fragen sind in der Summe die Nährstoffe, die eine Blume für ein Erblühen benötigt – oder Menschen eben zum «Flourishen» bringt.
Wir haben es in der Akutbetreuung mit Menschen zu tun, denen gerade etwas Ausserordentliches widerfahren ist. Angesichts von Belastungen und Leid auf das Positive zu schauen, scheint eine immense Gratwanderung zu sein …
Wenn ein Mensch eine belastende Erfahrung macht, einen Schicksalsschlag erlebt, aus der Bahn geworfen wird, dann ist das erst mal nichts Schönes, nichts Gutes, aber auch nichts Sinnvolles. Das ist ein Schicksalsschlag. Damit Menschen lernen können, mit einer solchen Situation «gut» umzugehen und trotzdem gut weiterzuleben, braucht es eine Erweiterung der Wahrnehmung.
Inwiefern?
Die Wahrnehmung verengt sich angesichts einer Krise normalerweise zu einem Tunnelblick. Negative Reize ziehen unsere Wahrnehmung an, was auch sinnvoll ist. Durch die Fokussierung auf das Bedrohliche rutscht alles, was auch nur ansatzweise schön, erfreulich, zufriedenstellend ist, in den Hintergrund. Zudem haben Betroffene oft auch ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich über ein Vogelzwitschern am Morgen freuen, obschon doch gerade eben Schreckliches passiert ist. Und sie fragen sich oft: Bin ich ein schlechter Mensch, dass ich mich darüber freue? Nein. Dieses Nein zu erkennen, ist exakt der Weg der Heilung und der Weiterentwicklung.
Barbara Fredrickson schreibt in ihrem Buch «Die Macht der guten Gefühle», dass es drei emotional positive Erlebnisse braucht, um ein emotional bedrückendes Erlebnis auszugleichen. Was sagen Sie dazu?
Es geht nicht darum, einem starken negativen Erlebnis ein ebenso starkes positives Erlebnis gegenüberzustellen. Es geht darum, mit vielen kleinen positiven Momenten, den sogenannten «Seifenblasenmomenten», die Verarbeitung von Schicksalsereignissen zu unterstützen. Stellen Sie sich zwei Waagschalen vor: In eine kommen die Gefühle, die unangenehm sind – Angst, Trauer, Sorge, Wut, Verzweiflung. Und in die andere die positiven Gefühle – Freude, Zuversicht, Neugier, Inspiration, Staunen, Liebe. Wenn wir einen Querschnitt über die Zeit machen, wird sich auch in der positiven Waagschale immer etwas finden. Barbara Fredrickson spricht von der täglichen Dosis an positiven Gefühlen. Sie vergleicht dies mit einer gesunden Ernährung: Wenn ich einmal drei Kilo Broccoli esse, werde ich nicht gesünder. Wenn ich aber pro Woche mehrmals Gemüse esse, dann tut das meinem Immunsystem gut.
Sie sprechen von Seifenblasenmomenten. Womit werden Seifenblasen in der Positiven Psychologie in Verbindung gebracht?
Das Gehirn unserer Vorfahren war so ausgelegt, dass es Säbelzahntigern begegnen konnte. Diese «Grundeinstellung» ist erhalten geblieben. Sie führt dazu, dass unangenehme und gefährliche Reize äusserst schnell in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit springen. Wenn wir mit dieser «Werkseinstellung» unangenehmen Emotionen wie Angst, Trauer und Wut ausgesetzt sind, werden wir uns darauf fokussieren. Es ist so, als würde uns ein Tennisball treffen. Das spüren wir, und wir reagieren und werden handlungsbereit. Unsere psychische «Werkseinstellung» regelt jedoch leider positive Emotionen völlig anders. Sie sind nicht so deutlich und schnell da wie Tennisbälle, sondern sie kommen sanfter daher und sind schneller ablenkbar, eben wie Seifenblasen.
Welche Chance habe ich, mich für Seifenblasenmomente zu öffnen, wenn ich von einem Ereignis betroffen bin?
Wir sind unterschiedlich gestrickt und die Frage, wie schnell unser Gehirn auf die negative Spur einschwenkt oder wie viel Offenheit für Seifenblasenmomente da ist, ist auch genetisch mitbedingt. Das hat was mit Reizschwellen, Hirnstruktur, aber auch ganz viel mit der eigenen Biografie zu tun.
Was meinen Sie damit?
Ich umschreibe es mal so: Es kann entscheidend sein, ob ich mitten auf dem Tennisplatz oder an dessen Rand aufgewachsen bin, wo es zwischendurch auch Seifenblasenmomente gab, die wertgeschätzt wurden. Diese Aspekte können präventiv, zum Beispiel bei der Erziehung, einbezogen werden. Beispielsweise kann man mit den eigenen Kindern nach der Schule am Mittagstisch oder abends beim Ins-Bett-Bringen nicht nur darüber reden, was heute «doof» war, sondern auch auf schöne und erfreuliche Tageserlebnisse hinlenken. Wenn ich gleichzeitig wahrnehme, dass etwas schön ist, und ich mich darüber freue, dann kann ich das potenzieren. Dann gerät dieser Seifenblasenmoment quasi ins «Scheinwerfer- licht», er wird wesentlicher. Mein Gehirn lernt dadurch, solche Momente wichtig zu nehmen, und ich kann damit Widerstandskraft aufbauen. Es gibt Forschungsergebnisse, die zeigen, dass resiliente Menschen positive Emotionen nutzen, um nach Belastungssituationen wieder auf das vorherige Level an psychischer Leistungsfähigkeit zurückzufedern. Das kann als Strategie betrachtet werden, um aus schwierigen Situationen rauszukommen.
Kann man das auch selbst trainieren?
Ja. Wir können Seifenblasenmomente sammeln. Und wir können in unserem Leben Seifenblasenschonraumzonen einrichten, in denen wir Fragen stellen wie: «Was war heute schön, worüber habe ich mich gefreut, was hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert?» Auch wenn es viele «Tennisbälle» gibt und gab, ist es ausser Zweifel, dass auch kleinere oder grössere Seifenblasenmomente da sind, die es wahrzunehmen gilt. In diesem Sinn unterstützen Interventionen der Positiven Psychologie. Sie eröffnen der «Werkseinstellung» unseres Gehirns eine alternative «Parallelspur». Und damit werden wir handlungsflexibler, weil uns positive Gefühle zu anderen Handlungen bereit machen, also nicht zu Flucht, Kampf oder Einfrieren, sondern zur Exploration, zum Rausgehen, zum sozialen Kontakt. Und damit zum Neuen, zum Lernen. So können wir uns entwickeln und wachsen.
Mögliche Übung am Tagesende
1. Frage: Was war heute schön?
2. Frage: Wie habe ich dazu beigetragen, dass ich das als schön erlebt habe?
Dr. Daniela Blickhan, Dipl.-Psych., MSc, studierte Psychologie in Würzburg, Positive Psychologie in London und promovierte in Positiver Psychologie an der FU Berlin. Sie ist akkreditiert als Lehrtrainerin und Lehrcoach (DCV, DACH-PP, DVNLP). Daniela Blickhan leitet seit 1991 das Inntal Institut und hat seit 2013 den Vorsitz im Deutschsprachigen Dachverband für Positive Psychologie. Veröffentlichungen: «Positive Psychologie – ein Handbuch für die Praxis» (Junfermann, 2018), «Positive Psychologie im Coaching» (Junfermann, 2021 – Preis «bestes Coachingbuch 2021/22»)
Kontakt: www.inntal-institut.de
Interview: Petra Strickner