Ein wertfreier Umgang mit Emotionen fördert die Gesundheit

Emotionen bringen Farbe in unser Leben – manchmal tröpfchenweise und je nach Ereignis zuweilen auch überflutend. Das wertfreie Annehmen aller Emotionen wirkt stabilisierend und gesundheitsfördernd. Janine Köhli, Notfallpsychologin bei Carelink, beschreibt, wie diese Erkenntnis in der Notfallpsychologie genutzt wird.

Im Alltag werden Emotionen (aus dem Lateinischen «ex movere» für «herausbewegen») oft in positive und negative eingeteilt. Während negative Emotionen, wie Traurigkeit, unerwünscht sind, weil sie uns Energie entziehen, sind positive Emotionen, zum Beispiel Freude, erwünscht. Sie beleben.

Eine solche Wahrnehmung übersieht die psychische Funktion von Emotionen. Denn Emotionen sind nicht von Natur aus gut oder schlecht, sondern haben immer einen Sinn und sind darum wichtig. Als komplexe, prozesshafte Reaktionen auf Ereignisse mobilisieren sie Kräfte, die uns in Richtung unserer Bedürfnisse bewegen. Sie sind wesentlicher Bestandteil des Menschseins und umfassen mehrere Aspekte. Neben einem Gefühl lösen sie auch körperliche und gedankliche Prozesse aus sowie ein Verhalten, welches das bedrohte Bedürfnis sichert. So löst Angst beispielsweise Herzrasen aus, das uns eine Gefahr erkennen und uns in Sicherheit fliehen lässt. Eine Einteilung der Emotionen nach ihrer Erlebnisart in angenehme und unangenehme Emotionen wird ihrer Natur gerechter.

Gemäss Forschungsergebnissen geht es Menschen insgesamt besser, wenn sie ihre unangenehmen Emotionen beachten und als normal anerkennen, anstatt sie zu unterdrücken. Gleichzeitig erweitert das Kultivieren angenehmer Emotionen unsere Wahrnehmung und fördert flexibles Denken, was die Widerstandsfähigkeit stärkt.

Die Daseinsberechtigung aller Emotionen im Sinn eines «Sowohl-als-Auch» trägt wesentlich zur psychischen Gesundheit bei und wird in der Notfallpsychologie eingesetzt. Ausgelöst durch potenziell traumatisierende Ereignisse können Personen von einer Wucht an Emotionen gepackt und durchgeschüttelt werden. Im Gegensatz zur Psychotherapie werden in der Notfallpsychologie solche Emotionen nicht proaktiv angesprochen oder vertieft. Denn das frühe, erzwungene «Durcharbeiten» von Emotionen erschwert eine Stabilisierung und kann Stressreaktionen verstärken, die das Befinden der betroffenen Person zusätzlich verschlechtern. Werden Emotionen allerdings von der betroffenen Person selbst angesprochen, wird auf die Stabilisierung fokussiert:

  • Anerkennen: Emotionen werden gehört und benannt. («Ich höre, Sie haben Angst.»)
  • Erlaubnis geben: Emotionen werden normalisiert und legitimiert. Jedes Gefühl hat einen guten Grund, ist es doch gerade dieses, welches der Person signalisiert, dass sie sich in einer Ausnahmesituation befindet. («Sie dürfen mit Angst reagieren, solche Situationen lösen diese aus.»)
  • Keinen Druck erzeugen: Floskeln, wie «die Zeit heilt», oder unangebrachte Positivität, wie «im Schlechten liegt auch Gutes», werden vermieden. Die Emotionen der Person haben ihre Berechtigung.
  • Zuversicht vermitteln: Durch die Förderung von angenehmer Entlastung und Sicherheit kann die betroffene Person ihren Blick zunehmend für die nächsten, machbaren Schritte öffnen.

In der Notfallpsychologie besteht die emotionale Unterstützung in der Herstellung eines sicheren Rahmens als angenehmes, entlastendes Gegengewicht zur unangenehmen Belastung durch die Ausnahmesituation. Und obwohl Emotionen während des Ereignisses nicht direkt angesprochen werden, stehen diese im Nachhinein häufig im Zentrum dankbarer Rückmeldungen von Betroffenen: Es habe «gutgetan», dass in der Ausnahmesituation jemand für einen da gewesen sei und unvoreingenommen zugehört habe.

Autorin:
Janine Köhli ist Notfallpsychologin bei Carelink und leitet das Ausbildungsangebot Care&Peer Practice (CPP). Sie ist selbstständige Psychotherapeutin. Emotionsfokussierte Techniken ihr Schwerpunkt.

Literatur:
David, S. (2020). Emotionale Beweglichkeit. Für freie Entfaltung mit klarem Blick und offenem Geist. Narayana Verlag.
Hausmann, C. (2021). Interventionen der Notfallpsychologie. Was man tun kann, wenn das Schlimmste passiert. 2. überarbeitete Auflage. Wien: Facultas.

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