«Die Anerkennung des anderen ist unverwechselbar kostbar» – Giovanni Maio über die Sorgekultur in der heutigen Zeit

Der Bruch bei ausserordentlichen Ereignissen sorge für eine tiefe Verletzlichkeit beim Menschen und teilt sein Leben fortan in ein «davor» und «danach». Die Hilfe und Sorge um die Betroffenen ist essenziell und besteht zuerst einmal aus der richtigen Haltung.

Prof. Dr. Giovanni Maio tritt leise auf. Während seines Vortrags, der ohne jede Präsentation auskam, konnte man ihm buchstäblich beim Denken beobachten. In rund 45 Minuten schälte er die Essenz der Sorge aus seinem Gedankengerüst heraus. Dazu begann er mit der Krise an sich: Diese bricht unangekündigt über einen herein und sorgt für ein Ohnmachtsgefühl. Sie bemächtigt sich der gesamten Aufmerksamkeit, des ganzen Menschen und unterbricht das Leben in seinem täglichen Tun und Sein Damit einher geht eine Erschütterung im Grundvertrauen, oft gepaart von einem Vertrauensverlust in die Welt und einer Hilflosigkeit angesichts der Zukunft. Diese Verletzlichkeitserfahrung ist ausserordentlich und teilt die Welt zukünftig in ein «davor» und «danach».

Krisen radikal entkoppeln
Bevor er in die Sorge als aktives Tun eintauchte, ergründete Maio die Ursachen für diese Verletzlichkeit. Der Mensch ist abhängig von der Welt, die ihn umgibt. Neben der körperlichen Unversehrtheit braucht er Beziehungen, woraus wiederum Anerkennung für das eigene «Ich» resultieren. Die Zeit für dieses «Ich» ist allerdings zeitlich beschränkt und die radikale Endlichkeit des Menschen steht immer im Raum. Bricht eine Krise über den Menschenherein, werden diese Abhängigkeiten und Beziehungen nicht nur unterbrochen, sondern für eine gewisse Zeit auch ausgehebelt.

Anerkennende Sorge heilt
Die aktive Sorge für die Betroffenen kann heilen, wenn sie «richtig» gelebt wird. Neben der offenen und erwartungsfreien Haltung geht es vor allem darum, das Anliegen der Betroffenen zu verstehen und sehr gut zuzuhören. «Sorge ist auch zu verstehen, was der oder die andere braucht und nicht, was ich als Sorgender und Sorgende möchte.» Mit dieser Zuwendung ist auch der notwendige Beziehungsaufbau sehr gut möglich. Für das weitere Gespräch braucht es oft ein Höchstmass an Feingefühl, um die Scham zu überwinden und das Gegenüber in sein Innerstes blicken zu lassen. Sorgende antworten darauf mit einer Unbeirrbarkeit in ihrem Tun und bleiben, bestätigt und unterstützt, solange es sie braucht. «Du bist kostbar», drücken Sorgende aus und bringen den Betroffenen damit das zurück, was sie so sehr brauchen: die Anerkennung als Mensch in seiner Einzigartigkeit.

 

Prof. Dr. Giovanni Maio, Professor für Medizinethik, Universität Freiburg im Breisgau
Giovanni Maio, M.A. (phil., geb. 1964) studierte Medizin und Philosophie an den Universitäten Freiburg, Straßburg und Hagen. Nach seiner Promotion zum Dr. med in Freiburg absolvierte er eine Facharztausbildung für Innere Medizin. Im Jahr 2000 habilitierte er sich an der Universität Lübeck für Ethik und Geschichte der Medizin. 2002 wurde er in die zentrale Ethikkommission für Stammzellenforschung berufen. Seit 2005 ist er Professor für Bioethik und Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und leitet das dortige interdisziplinäre Ethikzentrum.

 

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