«Ich bin ein Mensch der Front»
Anna-Maria Schärer leistet neben ihrer Arbeit als medizinische Praxisangestellte, selbstständige Beraterin und Fachleiterin eines Careteams regelmässig Auslandeinsätze für humanitäre Hilfe. Ein Gespräch über grenzübergreifende Carearbeit, kulturelle Barrieren und den Umgang mit Leid.
Seit 2016 arbeiten Sie als Freiwillige beim Schweizer Verein Borderfree Association, der sich vor allem für Flüchtende einsetzt. Wie kam es dazu?
Im Jahr 2001, als ein Tsunami Südostasien traf, wollte ich mit einer Hilfsorganisation nach Indonesien fliegen. Nach Rücksprache mit einer Psychiaterin, die beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz tätig war, entschied ich mich aber dagegen. Meine Kinder waren damals noch klein – es war noch nicht der richtige Zeitpunkt. Richtig los ging es 2016 mit den grossen Fluchtbewegungen aus Syrien und anderen Ländern in Richtung Europa.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Verein?
Die Bilder der Flüchtlingsströme waren für mich fast nicht mehr aushaltbar und ich fühlte mich hilflos. Ich bin ein Mensch der Front. Ich bin gerne bei den Menschen und arbeite gerne mit ihnen zusammen. Ich sagte meinem Mann: Wenn ich eine Organisation finde, dann bin ich weg. Ich informierte auch meine Arbeitgeber. Dann ging es rasch: Im November 2015 fand ich den Verein Borderfree Association, der Leute für einen Einsatz im Flüchtlingscamp Presevo im äussersten Süden Serbiens suchte. Im Dezember sassen wir erstmals zusammen und im Januar 2016 war ich bereits dort.
Wie war dieser allererste Einsatz?
Als ich in das riesige Camp kam, roch es nach verbranntem Plastik und überall war Rauch. Der Anblick dieser Menschen war hart. Serbien war für sie eine Zwischenstation auf dem Weg nach Westeuropa. Ich erinnere mich an eine Szene am ersten Abend. Man gab mir eine Leuchtweste und ein Walkie-Talkie und wir gingen zu verlassenen Bahnschienen. Wir mussten vor den Gleisen stehen, wo Güterzüge einfuhren, und eine Menschenkette bilden, damit die Flüchtenden nicht den Zug stürmten. Alle wollten weg, auch Eltern mit ihren Kindern. Es brach Panik aus. Ich stand dort und mir sind die Tränen nur so herabgeflossen.
Was war Ihre Aufgabe im Camp?
Mein Auftrag war die Koordination des Flüchtlingscamps. Es waren bereits Freiwillige vor Ort, aber sie waren überlastet und nonstop krank. Ich stellte als Erstes einen Arbeitsplan auf mit Schichten, damit die Helfenden schlafen und sich erholen konnten. Ärzte ohne Grenzen stellte für uns die Zelte auf und wir sorgten dafür, dass sie warm sind. Wir haben gekocht, Essen verteilt und erste medizinische Hilfe geleistet. Wir führten Gespräche mit den Geflüchteten und haben versucht, etwas Normalität in die Zelte zu bringen. Ich war zudem für die Rekrutierung der Volunteers zuständig und leistete Carearbeit für das Team.
Was unterscheidet Ihre Arbeit als medizinische Praxisangestellte und Beraterin in der Schweiz von derjenigen in einem Krisengebiet?
Man arbeitet mit Menschen, die alles verloren und keine Perspektiven mehr haben. Ein grosser Unterschied ist auch die Infrastruktur. Hier funktioniert alles wunderbar und dort hat man wenig bis nichts. Man muss ad hoc organisieren und improvisieren können. Man darf selbst keine Ansprüche haben, auch nicht bezüglich Übernachten oder Essen. Von der Teamarbeit her ist man in einem Krisengebiet noch stärker aufeinander angewiesen. Wenn es Streit gibt oder Meinungsverschiedenheiten, dann muss man dies sofort klären. Diese Arbeit Hand in Hand schätze ich sehr – die Zusammenarbeit und das Engagement jeder und jedes einzelnen.
Wie bereitet man sich auf die Einsätze vor?
Vorbereiten kann man sich vor allem von der Ausrüstung her, ansonsten müssen wir offen und äusserst flexibel sein. Der Einsatz in der Türkei nach dem Erbeben war zum Beispiel eine wahre Ad-hoc-Übung. Nur eine Woche zuvor hatte ich an einer Stabsübung zum Thema Naturkatastrophen teilgenommen. Kaum war ich zuhause, machte ich mich auf den Weg in die Türkei. Du kommst in ein Land, das sich im Chaos befindet. Es funktionierte nichts mehr – es gab keinen Strom, keine Infrastruktur, kein Handynetz. Wir gingen an die türkisch-syrische Grenze, wo die Hilfe noch nicht angekommen war.
Was macht man in so einer Situation?
Die ersten Tage waren alle Geschäfte geschlossen, also hatten wir keinen Zugang zu gar nichts. Wir nutzten die Zeit für ein Brainstorming, um uns zu organisieren und zu schauen, was Priorität hat. Es gab viele Nachbeben. Wir waren in einem Land, wo auch für uns alles unsicher war.
Wie erleben Sie bei den Einsätzen die kulturellen Barrieren?
Man muss sich vorab über die Kultur und die Lebensweise der Menschen informieren. Ich war vor allem in arabischen Ländern im Einsatz. Trägershirts gehen da zum Beispiel gar nicht und man reicht sich nicht die Hände. Vor allem bei schwierigen Themen ist es besser, wenn Männer mit den Männern sprechen. Die Frauen hingegen sind sehr offen und schätzen auch Körperkontakt. Es ist wichtig, dass man sich der kulturellen Unterschiede bewusst ist und sich fragt, ob man dies möchte und kann. Ich fühle mich sehr wohl in der arabischen Kultur.
Wie haben die Einsätze Ihre Arbeit hier in der Schweiz geprägt oder verändert? Oder sind das für Sie zwei komplett getrennte Welten?
Der erste Einsatz in Serbien hat mein Weltbild nochmals verändert. Ich hatte danach grosse Mühe, wieder in meinen Arbeitsalltag in der Arztpraxis zu finden. Die Dimensionen waren völlig anders und die vielen Vorurteile gegenüber diesen Menschen machten mir sehr zu schaffen. Gleichzeitig spürte ich tiefe Dankbarkeit für das, was ich hier habe. Ich bin in Sicherheit, ich habe alles. Ich musste lernen, diese Welten zu trennen. Nur so konnte ich weiterhin meinen Job gut machen. Es gibt auch hier in der Schweiz Leid, das dürfen wir nicht werten.
Wie haben Sie wieder Tritt fassen können?
Das war ein persönlicher Prozess. Die Integration der beiden Welten gelingt mir manchmal besser, manchmal weniger. Aber es ist wichtig, dass ich mich immer wieder mit dem Thema aktiv auseinandersetze und reflektiere. Wo stehe ich? Was fühle ich jetzt, und wieso fühle ich das jetzt gerade? Inzwischen gelingt mir das sehr gut.
Anna-Maria Schärer arbeitet Teilzeit als medizinische Praxisassistentin in einer Gruppenpraxis und hat seit fünf Jahren eine eigene Praxis für psychosoziale Beratungen und Traumaberatung. Neben ihrer Tätigkeit als Fachleiterin im Careteam des Kantons Zug leistet sie seit 2016 regelmässig Freiwilligeneinsätze für den spendenfinanzierten Verein Borderfree Association.
https://beratungspraxis-schaerer.ch/
https://border-free.ch/