«Das Glück steckt in unseren Köpfen» – Riham Mahfouz begleitet Menschen aus der Ferne

Die moderne Technik macht es möglich: Riham Mahfouz begleitet Menschen, die zum Teil mehrere tausend Kilometer von ihr entfernt leben. Im Gespräch erzählt sie von den Chancen und Grenzen der Fernberatung und wie es ihr gelingt, trotz täglicher Konfrontation mit fremdem Leid optimistisch zu bleiben.

Frau Mahfouz, Sie begleiten aus der Distanz Menschen in Not. Wie kam es dazu?
Ich bin Ärztin, Psychiaterin und Psychotherapeutin und stamme aus Ägypten. Dort hatte ich eine eigene Praxis für Psychotherapie. Vor 13 Jahren kam ich mit meiner Familie in die Schweiz. Seither begleite ich meine Klientinnen und Klienten primär aus der Ferne, insbesondere über die Online-Plattform Shezlong. Zusätzlich wirke ich an Projekten verschiedener Organisationen mit, zum Beispiel zur Unterstützung von Fachleuten, die in Krisengebieten Carearbeit leisten.

Wo befinden sich Ihre Klientinnen und Klienten?
Sie leben vor allem im Nahen Osten – zum Beispiel in Ägypten, in den Arabischen Emiraten, im Libanon oder in Gaza – oder sind wie ich nach Europa emigriert. Die meisten haben deshalb eine ähnliche Kultur und einen ähnlichen Hintergrund wie ich, was hilfreich ist.

Mit welchen Themen und Situationen sind Ihre Klientinnen und Klienten konfrontiert?
Mein Schwerpunkt liegt in der Arbeit mit Menschen, die unter Ängsten, Depressionen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Viele meiner Klientinnen und Klienten im Nahen Osten leben in einer akuten Krisensituation oder erleben die aktuellen Konflikte aus der Nähe mit. Das Projekt «Help the Helpers» richtet sich zum Beispiel an Ärzte- und Pflegepersonal sowie Sozialarbeitende in Gaza. Meine Klientinnen und Klienten, die in Europa leben, sind zum grössten Teil Geflüchtete aus dem Nahen Osten. Sie leiden unter den erlittenen Traumata. Auch Konflikte zum Beispiel zwischen Eheleuten oder zwischen der ersten und zweiten Generation sind ein Thema. Die Flucht schweisst die Familien zusammen, aber, einmal in Sicherheit, sind sie in der neuen Umgebung zusätzlich mit den Herausforderungen der Anpassung an die neue Lebenssituation konfrontiert. Da treten oft Konflikte zutage.

Wie läuft eine Betreuung auf Distanz konkret ab?
Meistens treffen wir uns online mit einem Video-Call. Einige schalten aber die Kamera aus, um ihre Identität zu schützen – sei es aus religiösen oder kulturellen Gründen oder für ihre eigene Sicherheit. Das ist nicht ideal, aber ich möchte ihnen einen sicheren Raum bieten, damit sie ihre Gefühle ausdrücken können. Meine Kamera ist jedoch immer eingeschaltet. Es ist wichtig, dass sie mich sehen können, damit eine Vertrauensbasis entstehen kann. Und viele Klientinnen und Klienten fühlen sich nach ein paar Treffen sicher genug, um sich ebenfalls zu zeigen.

Wie viel ist mit einem Audio-Call noch möglich?
Ich erinnere mich an die Begleitung einer Frau im Jemen. Sie lebte in einem abgelegenen Dorf, hatte vier Kinder und ihr Mann war im Krieg umgekommen. Wir konnten nur etwa einmal pro Monat telefonieren. Die Situation war ernst: Sie war depressiv und litt unter Zwangsstörungen und Panikattacken. Ich war sehr skeptisch, ob ich ihr unter den gegebenen Umständen helfen könnte. Doch es hat tatsächlich funktioniert. Wir machten viele einfache, aber effektive Übungen zum Angstmanagement oder zur Emotionsregulation, zudem nutzte ich Ansätze aus der psychodynamischen Therapie und der kognitiven Verhaltenstherapie. Dies war für mich eine lebensverändernde Erfahrung: Auch mit einfachsten Mitteln kann ich etwas für Menschen in Not tun.

Was geschieht, wenn Sie aus der Distanz nicht mehr weiterhelfen können?
Manchmal braucht es mehr als nur Online-Treffen. Menschen, die schwer belastet sind, können eine Psychose entwickeln und deshalb nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Sie sagen dann: «Ich möchte Sie anfassen, um sicher zu sein, dass es Sie wirklich gibt.» In solchen Fällen spreche ich mit dem Projektteam vor Ort, damit ein persönliches Treffen stattfinden kann. Ich reise auch zweimal jährlich nach Ägypten und kann dort persönliche Gespräche anbieten.

Sie haben mit Menschen in Krisengebieten zu tun, die akut gefährdet sind. Wie gehen Sie mit dieser Unsicherheit um?
Ich verfüge über verschiedene Techniken zur Selbstregulation. Ausserdem bin ich geleitet durch Zuversicht und gehe grundsätzlich immer vom Guten aus. Einmal konnte ich zum Beispiel eine Klientin aus Gaza einen Monat lang nicht mehr erreichen. Ich schickte ihr jeden Tag eine Nachricht. Dann meldete sie sich auf einmal wieder. Sie hatte fliehen müssen und hatte keine Möglichkeit, sich zu melden, aber es ging ihr gut. In der Psychotherapie ist es sehr wichtig, eine positive Grundhaltung zu haben – auch weil dies ein Modell für die Klientinnen und Klienten ist, woran sie sich orientieren können.

Was ist Ihnen bei Ihrer Arbeit besonders wichtig?
Zum einen die Beziehung zu meinen Klientinnen und Klienten. Dies setzt Vertrauen, Empathie und Respekt voraus. Zum anderen achte ich stark auf Details. In der Traumatherapie ist es wichtig, die Klientinnen und Klienten frei erzählen zu lassen, denn manchmal kommt die wichtigste Information ganz zum Schluss. Aus Details lerne ich, wie sie denken und fühlen und kann Muster erkennen. Jede Erinnerung legt zudem wieder eine Schicht frei, die verschüttet war. All das ist für den Heilungsprozess sehr wichtig.

Warum haben Sie sich für diese herausfordernde Tätigkeit entschieden?
Ich liebe den Austausch mit Menschen und lerne viel von meinen Klientinnen und Klienten. Ich bin überzeugt, dass eine gesunde Psyche letztlich wichtiger ist für die Lebensqualität als ein gesunder Körper. Ich kann physisch eingeschränkt sein und mit einer gesunden psychischen Verfassung trotzdem ein gutes Leben führen. Das Glück steckt in unseren Köpfen.


Riham Mahfouz (MD) ist Ärztin, Psychiaterin und Psychotherapeutin und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Basel. Sie hat in Ägypten und Grossbritannien Medizin studiert und an der Universität Basel den MAS Peace & Conflict absolviert. Neben ihrer aktuellen Tätigkeit als Psychiaterin und Psychotherapeutin ist sie Mitgründerin der NPO Innovate4Right und muslimische Seelsorgerin in Basel.


 

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