Ein Zuhause auf Zeit – Interview mit Lucas Maissen, Leiter des Schlupfhuus

Ein kleiner Gummikaktus in seinem Notfallset erinnert Lucas Maissen immer wieder daran, dass die Jugendlichen in seiner Obhut Stacheln ausbilden mussten, um im Leben zurechtzukommen. Im Interview erzählt der Leiter des Zürcher Schlupfhuus über die traumapädagogische Arbeit, das Ankommen und das Weitergehen.

Das Schlupfhuus bietet Jugendlichen, die sich in einer Krisensituation befinden, Unterstützung und einen sicheren Ort. Was sind die häufigsten Gründe, dass sie bei Ihnen Hilfe suchen?
Sie alle befinden sich in einer belastenden Situation, in der sie nicht mehr weiterwissen. Die meisten haben mehrere Formen von Gewalt erlebt – psychische, physische oder sexuelle. Typisch ist auch eine konfliktreiche Beziehung zwischen Eltern und Kindern, zum Beispiel wegen sehr starker Kontrolle oder unterschiedlichen Lebensentwürfen. Viele Eltern sind selbst psychisch belastet oder krank. Auch Suchtthematiken, prekäre finanzielle Verhältnisse und unklare Migrationskontexte spielen eine Rolle. Meistens führen mehrere Faktoren dazu, dass die Jugendlichen im Schlupfhuus Schutz suchen.

Man hört immer wieder, es mangle an Unterstützungsangeboten für Jugendliche in einer Krise. Wie geht es dem Schlupfhuus diesbezüglich?
Das Problem hat sich in der Tat verschärft. Wir haben pro Jahr etwa 150 bis 180 Jugendliche, die einen Platz bräuchten, aber keinen finden. Die jungen Menschen sind einerseits unabhängiger und besser informiert, zum Beispiel dank der Schulsozialarbeit. Zugleich hat sich ihre psychische Verfassung verschlechtert. Unsere aktuelle Situation einer Multikrise macht etwas mit ihnen, und auch der Schuldruck nimmt zu. Gerne würden wir mehr Plätze anbieten. Wir suchen bereits seit fünf Jahren ein geeignetes Haus in Zürich für eine zweite Wohngruppe. Jetzt endlich könnte es klappen.

Was passiert als Erstes, wenn sich ein Jugendlicher per Whatsapp oder Mail meldet oder eine Jugendliche bei Ihnen vor der Tür steht?
Beim ersten Kontakt versuchen wir herauszufinden, was die jungen Menschen erleben und wie gross ihre Not ist. Warum wollen sie nicht mehr in der Familie sein – an dem Ort, der ihnen eigentlich Schutz bieten sollte? Dann geht es um die Frage, ob ein Weggehen von daheim wirklich sinnvoll ist oder ob eine ambulante Beratung genügt. Gerade heute Morgen waren vier Jugendliche hier. Es ist ein schwieriges Abwägen: Wer braucht den Platz am dringendsten? Wer kann mit Unterstützung noch im Umfeld bleiben?

Informieren Sie die Eltern?
Ja, das müssen wir. Wenn Angst vor Gewalt besteht, können wir aber in Absprache mit der Polizei einen Geheimstatus vereinbaren. Dann wissen die Eltern nur, dass sie sich in einer sozialen Einrichtung befinden.

Wie viele kehren später wieder heim?
Etwa die Hälfte kehrt wieder zur Familie zurück, teilweise mit Begleitmassnahmen wie einem Jugendcoach oder einer sozialpädagogischen Familienbegleitung. Wir bieten neu auch ein ambulantes Krisencoaching an für die Übergangszeit, bis eine Lösung greift.

Sie unterscheiden im Schlupfhuus die drei Phasen Ankommen, Weiterkommen und Weitergehen.
Wir sagen bewusst Ankommen und Weitergehen statt wie in Heimen üblich Ein- und Austritt. Anfangs besteht meistens grosses Misstrauen und ein hohes Bedürfnis nach Kontrolle, und viele leiden unter somatischen Störungen wie Übelkeit oder Kopfschmerzen. Das erste Ziel ist es, ein emotionales Ankommen in der neuen Situation und in den neuen Beziehungen zu ermöglichen und die Jugendlichen psychosozial zu stabilisieren. In der Phase des Weiterkommens geht es um das bessere Verständnis der eigenen Situation, aber auch darum, was solche Erlebnisse mit Menschen macht. Gemeinsam versuchen wir, maladaptive Bewältigungsstrategien in adaptive umzuwandeln. Die Frage, wie es weitergehen könnte, steht ebenfalls im Raum. Die dritte Phase beginnt dann, wenn sie wissen, wo es als nächstes hingeht. Der Rückblick auf die Ankommensphase hilft ihnen zu erkennen, was für den neuen Übergang hilfreich sein könnte.

Sie arbeiten mit traumapädagogischen Ansätzen und Methoden. Worum geht es dabei?
Menschen, die eine chronische Traumatisierung erlebt haben, zeigen im Alltag viele Verhaltensweisen, die sie zwar als Bewältigungsverhalten entwickeln mussten, längerfristig aber nicht hilfreich sind. Häusliche Gewalt ist geprägt von Unberechenbarkeit, Geringschätzung,  Handlungsunfähigkeit und Hoffnungslosigkeit. Dem setzen wir Transparenz, Partizipation und Wertschätzung entgegen. So erleben sie ein komplementäres soziales Umfeld. Emotionsregulation und der Umgang mit Stress sind dabei wichtige Themen. Es geht also nicht um die Aufarbeitung ihrer Geschichte, sondern darum, deren Wirkung im Hier und Jetzt zu verstehen, sie gemeinsam auszuhalten und neue Strategien im Umgang damit zu finden. Traumapädagogik setzt insofern am Umfeld an – die Psychologie an der Persönlichkeit.

Sind alle Jugendlichen, die zu Ihnen kommen, traumatisiert?
Einige kommen in einer akuten Traumaphase zu uns und haben noch keine Traumafolgen entwickelt. Viele jedoch sind traumatisiert, und gut 40 Prozent erfüllen die Kriterien für eine komplexe Traumafolgestörung. Im Vergleich mit anderen Jugendheimen und Beobachtungsstationen leiden unsere Jugendlichen hochsignifikant häufiger an somatischen Beschwerden, Suizidgedanken und ängstlich-depressiven Symptomen.

Ihr Team ist konstant mit schwierigen Themen und Krisen konfrontiert. Was brauchen die Mitarbeitenden, um nicht auszubrennen?
Die Geschichten der Jugendlichen sind heftig. Dazu kommt ein grosser Druck von den Elternhäusern, und die jungen Menschen zeigen die herausfordernden Verhaltensweisen ja weiter. Der Alltag ist unvorhersehbar und geprägt von heftigen Emotionen, persönlichen Krisen und immer wieder auch Eskalationen. Damit das Gefühl von Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit nicht auf das Team überschwappt, braucht es ein gute emotionale Versorgung der Mitarbeitenden. In regelmässigen Fachgesprächen reflektieren sie mit der Leitung ihr emotionales Erleben in Bezug auf die Arbeit. Auch auf Teamebene wird dies reflektiert. Dazu kommen Weiterbildungen, Haltungsarbeit und regelmässige Interaktionsanalysen mit unserer Psychotherapeutin. Genauso wichtig ist es, viele freudige, leichte Momente mit den jungen Menschen und im Team zu erleben. Emotional anstrengend bleibt die Arbeit dennoch.

Sie sind auch als Notfallpsychologe für Carelink tätig. Was hat Sie dazu bewogen?
Wir haben es mit Menschen zu tun, die im akuten Geschehen bei uns ankommen, und traumapädagogische Überlegungen decken nicht alles ab. Deshalb habe ich mich zum Notfallpsychologen FSP weitergebildet. Dort bin ich mit Mitarbeitenden von Carelink ins Gespräch gekommen. Ich freue mich, dass ich auf diesem Weg Wissen aus meinem Alltag weitergeben kann.

Eine letzte Frage: Was wünschen Sie den Jugendlichen unserer Zeit?
Vieles. Am meisten würde ich mir wünschen, dass sie in dieser  Gesellschaft und auf dieser Welt einen Ort finden, wo sie ihre Stärken und Qualitäten ausspielen können. Da braucht es eine Gesellschaft – Menschen, ein Schulsystem, Eltern – die ihnen den nötigen Raum geben. Und es braucht junge Menschen, die neugierig und offen auf diese Welt zugehen.


Lucas Maissen ist seit 2013 Leiter des Schlupfhuus in Zürich. Die Institution nimmt pro Jahr etwa 70 bis 90 Jugendliche stationär auf; dazu kommen rund 400 ambulante Kontakte pro Jahr. Lucas Maissen hat klinische Heil- und Sozialpädagogik sowie Psychologie studiert. Im Schlupfhuus kann er die beiden Professionen optimal vereinen. Daneben ist er Lehrbeauftragter an verschiedenen Fachhochschulen und Universitäten und Präsident des Schweizer Fachverbands Traumapädagogik. Seit 2020 ist er als Notfallpsychologe und Teamleiter für die Stiftung Carelink im Einsatz und als Kursleiter tätig.
www.schlupfhuus.ch


 

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