Die Stillen nicht vergessen –
Notfallpsychologin Alice Stucky-Schwitter war nach einer Naturkatastrophe für Carelink im Einsatz

Nachdem eine Unterwalliser Gemeinde kürzlich schwer von einem Unwetter getroffen wurde, suchte sie die Unterstützung von Carelink. Im Interview spricht Notfallpsychologin Alice Stucky-Schwitter über den Umgang der Menschen mit einer unmittelbaren Bedrohung, die Rückkehr in den Alltag und über die wichtige Rolle der Behörden.

Sie waren Anfang Juli für uns als Notfallpsychologin im Einsatz. Was war passiert?
Ende Juni und Anfang Juli gab es zwei grosse Unwetter, die auch das Wallis trafen. Unter anderem traf es Gemeinden im Unterwallis, wo unerwartete Murgänge niedergingen. Einige Ortsteile wurden von der Umwelt abgeschnitten, andere waren unmittelbar gefährdet.

Welche Situation haben Sie angetroffen?
Als ich rund eine Woche nach dem Ereignis in einer der betroffenen Gemeinden eintraf, war die unmittelbare Bedrohung vorbei und die meisten Bewohnerinnen und Bewohner waren zurück in ihren Häusern. Es kamen zum Glück weder Mensch noch Tier zu schaden, aber ein Campingplatz und ein Bauernhof können nie mehr betrieben werden. Fachleute und auch Privatpersonen waren mit Aufräum- und Sicherungsarbeiten beschäftigt, und viele arbeiteten auf dem Feld, weil endlich schönes Wetter war. Eine Siedlung aus Einfamilienhäusern, wo vor allem junge Paare und Familien wohnen, war aus Sicherheitsgründen aber immer noch gesperrt.

Wie ging es den Betroffenen?
Die Erste Hilfe durch Zivilschutz, Polizei und Feuerwehr war sehr gut organisiert und die Menschen hatten viel Solidarität und gegenseitige Hilfe erfahren. Das hilft nicht nur in der Not selbst, sondern man zehrt auch später noch davon. Auch wenn die Gefahr vorbei war, spürte man die Angst aber immer noch. Wie geht es weiter? Was passiert beim nächsten Unwetter? Für jene, die bald zurückkehren konnten, war es einfacher, denn sie konnten etwas tun und dabei auch um das Verlorene trauern. Das Abwarten ist viel schwieriger, denn es ist mit einem Gefühl der Ohnmacht verbunden. In der Notfallpsychologie empfehlen wir deshalb immer: Geht zurück in den Alltag und orientiert euch wieder an euren Aufgaben. So kann ein Ausnahmeereignis viel schneller abgeschlossen werden.

Was konnten die Familien tun, die nicht wussten, ob sie jemals zurückkehren können?
Kleine alltägliche Aktivitäten und Gewohnheiten sind dann sehr wichtig. Etwas mit den Kindern machen, einkaufen, kochen. Dies hilft, um nicht ständig über die Situation zu sprechen oder darüber nachzudenken. Das war eine häufige Frage von jungen Müttern: Wie spreche ich mit den Kindern? Was soll ich ihnen erzählen? Wichtig ist es auch, immer wieder die Spannung abzubauen.

Was passiert aus psychologischer Sicht bei so einem Ereignis?
In der akuten Situation sind wir Menschen in einer Alarmsituation. Die Angst löst starke Stressreaktionen im Körper aus, die dem Sichern des Überlebens dienen. Wir kämpfen, fliehen oder sind wie gelähmt. Wenn die unmittelbare Bedrohung vorbei ist, können diese nachwirken in Form von Reaktionen wie zum Beispiel innere Unruhe, Schlaflosigkeit, mangelnde Konzentration, oder Flashbacks. Es ist möglich, dass diese auch erst Tage später auftreten. In den meisten Fällen klingen die Stressreaktionen wieder ab, denn der Mensch ist dafür gemacht zu überleben.

Angesichts der Folgen des Klimawandels dürften in einigen Regionen der Schweiz Unwetter zunehmen. Wie geht es Menschen, die mit der latenten Gefahr leben müssen, weil sie in einer Risikozone leben?
Das Gefühl von Schutz und Sicherheit ist sehr wichtig. Gemeinde und Kanton müssen mit baulichen Massnahmen und Schutzvorrichtungen die Sicherheit so gut wie möglich wieder herstellen und darüber informieren. Auch Privatpersonen können sich auf solche Ereignisse vorbereiten, indem sie zum Beispiel einen Ort haben, wo sie bei Bedarf hingehen können. Es gibt aber Menschen, die das besser aushalten als andere. Ob jemand bleibt oder vielleicht wegzieht, hängt auch davon ab, wie stark jemand mit dem Ort verbunden ist.

Haben Sie beim Einsatz im Wallis neue Erkenntnisse gewonnen?
Nicht eine neue Erkenntnis, aber eine Bestätigung: Wir dürfen die Stillen nicht vergessen, die weiter weg sind vom Geschehen. Nicht vergessen werden heisst, im Kontakt und eingebunden zu sein, Solidarität zu erfahren, Informationen zu erhalten. Viele brauchen keine Hilfe oder haben ein gutes Umfeld. Aber es gibt auch Menschen, die sich in der Not isolieren und im Erlebten erstarren. Im Austausch mit anderen wandelt sich das. Wir sollten speziell auf diejenigen achten, die sich besonders still verhalten.


Alice Stucky-Schwitter ist im Oberwallis aufgewachsen und lebt auf der Bettmeralp. Sie ist seit 40 Jahren mit einem Bergführer verheiratet und der Umgang mit Naturgefahren ist für sie deshalb ein Alltagsthema. Sie hat über 40 Jahre als Psychologin gearbeitet, zuletzt im Ambulatorium des Psychiatriezentrums Oberwallis. Seit 2006 ist sie zertifizierte Notfallpsychologin bei Carelink.


 

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