«Nonverbales Dasein besänftigt das Gefühlszentrum im Gehirn.»

Interview mit dem Hirnforscher Alexander Jatzko.*

Hirnforscher Alexander Jatzko spricht vom Denken und Fühlen, vom Grosshirn und vom Mandelkern. Und er spricht immer wieder von Verknüpfungen. Traumatisierte Menschen verknüpfen das Denken und Fühlen im Gehirn nicht mehr richtig. Die Gefühlszentren wie der Mandelkern werden übermächtig, die Schreckensbilder des Erlebten kehren immer wieder. Doch dem Trauma kann schon in der Akutbetreuung entgegengewirkt werden.

Herr Jatzko, angenommen, ich bin in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt: Was geht dabei in meinem Gehirn vor?

Alexander Jatzko: Wenn Sie Glück haben, läuft die Kommunikation in Ihrem Gehirn normal ab. Sie werden kein Trauma ausbilden. Fährt jedoch Ihr Frontalhirn herunter, mit dem Sie sonst denken, erleiden Sie einen psychischen Schock: Sie können nicht mehr richtig verknüpfen, was Ihnen da gerade widerfährt. Oder das Frontalhirn bleibt aktiv, aber die Schaltzentrale in der Mitte Ihres Gehirns wird gestört: Sie nehmen das schreckliche Geschehen wohl wahr, können es auch abspeichern, sich teilweise aber nicht daran erinnern, da die Verknüpfungen mit anderen Hirnregionen gekappt sind.

Werden solche Gedächtnisinhalte nach dem Unfall durch irgendein Ereignis wachgerufen oder getriggert, wie wir sagen, kommt es zu Intrusionen oder sogar Flashbacks: Da die Hirnregionen nach wie vor nicht oder zumindest nicht richtig verknüpft sind, erleben Sie alles nochmals, wie wenn es sich im Hier und Jetzt tatsächlich zutragen würde. Das Grosshirn reduziert – Stichwort fehlende Verknüpfung – seine Aktivität. Sie leiden an einem Trauma. Was Sie durchmachen, ist hirnphysiologisch nicht mit einer Panikattacke zu verwechseln. Bei Intrusionen und Flashbacks wird das Grosshirn weniger durchblutet, bei einer Panikattacke bleibt die Durchblutung normal oder wird sogar stärker.

 

Vom konkreten Beispiel zur allgemeinen Handlungsanweisung: Was heisst das nun für die Betreuung von Menschen, die gerade etwas Schreckliches erlebt haben?

Alexander Jatzko: Entscheidend für die Akutbetreuung ist, in welchem Zustand sich die betroffene Person befindet. Hat sie einen psychischen Schock erlitten, gilt es, sie aus dieser Starre herauszuholen und zum Beispiel durch Dasein auf ihre Gefühlszentren einzuwirken. Ein vorsichtiges Gespräch kann das Gefühl und die Gewissheit vermitteln, dass ihr geholfen wird. Andererseits muss auch das Grosshirn aktiviert werden. Das können schon einfache Fragen erreichen wie: Haben Sie Durst? Möchten Sie jemanden anrufen? So fängt die betroffene Person an, für sich selber zu denken. Sie kommt aus dem psychischen Schock heraus, da das Grosshirn wieder anfängt zu arbeiten.

Ist die betroffene Person durch das Ereignis nur belastet und nicht traumatisiert, und möchte sie darüber sprechen, so kann bereits an Ort und Stelle Verknüpfungsarbeit geleistet werden. Wenn jemand sprechen will, beansprucht dies das Grosshirn. Folglich können die Gefühlsregionen besser kontrolliert werden. Zuzuhören und schützend da zu sein, kann die Verknüpfung fördern und die Belastung mindern. Allerdings sollte eine betroffene Person niemals zum Reden gezwungen werden.

Nonverbales Dasein kann das Gefühlszentrum im Gehirn jedenfalls ganz direkt besänftigen. Sehr wichtig ist immer auch diese eine behutsame Frage: Wie kann ich Ihnen helfen, was benötigen Sie jetzt? Die Frage spricht sowohl das Grosshirn als Denkzentrum an als auch den die Gefühle bestimmenden Mandelkern, die Amygdala. Wer akut Betroffene betreut, sollte also nie allein entscheiden, was sie brauchen, sondern sie immer einbeziehen.

 

Wie kann ich als Caregiver feststellen, ob jemand einen psychischen Schock erlitten oder das Erlebte wahrgenommen und abgespeichert hat? Gibt es je dafür äussere Anhaltspunkte?

Alexander Jatzko: Wichtig ist auf jeden Fall, vorsichtig auf die betroffene Person zuzugehen. Ist sie in einem psychischen Schock, d.h. kann sie zum Beispiel kaum sprechen? Dann hilft, für sie da zu sein und ihr Grosshirn zu aktivieren. Möchte sie nicht über das Erlebte reden, kann dies ein Zeichen für eine Traumatisierung sein. Hier ist es wichtig, die betroffene Person etwa versuchen abzulenken. Ist sie durch das Ereignis belastet und möchte darüber sprechen, kann durch Sprechen die Verarbeitung gefördert werden.

 

Wie gehen nun Fachleute von Blaulicht- und Care-Organisationen vor diesem Hintergrund mit schwierigen Einsätzen um? Schalten sie, zu Gunsten der eigenen psychischen Gesundheit, voll auf Vernunft, so schützen sie sich wohl selber, erreichen aber allenfalls die Betroffenen nicht mehr. Ein Zielkonflikt ohne Lösung?

Alexander Jatzko: Wenn zum Beispiel ein Caregiver bei einem Einsatz im Gehirn Verknüpfungen mit dem eigenen Leben anstellt, muss er diese sofort unterbinden. Die eiserne Regel, um sich selber vor psychischem Leiden zu bewahren, lautet: Das eigene Leben heraushalten! Wer diese Distanz aufgibt, wird verletzbar.

Ein Caregiver, um bei diesem Beispiel zu bleiben, kann mit der betroffenen Person mitfühlen, solange das für ihn selber nicht zum Problem wird. Andernfalls muss er das Mitfühlen sein lassen. Er kann dennoch der betroffenen Person zugewandt und ihr gegenüber empathisch sein. Das genügt, um auf ihren Zustand und ihre Bedürfnisse einzugehen. Ein Caregiver sollte immer daran denken, was der betroffenen Person jetzt helfen kann und welche Reaktion von ihm jetzt adäquat ist.

Zur professionellen Distanz gehört auch, das eigene Grosshirn aktiv zu halten. Je langsamer jemand übrigens denkt, umso besser kann er oder sie das Grosshirn kontrollieren. Falls diese Kontrolle nicht funktioniert, fahren die eigenen Gefühlszentren hoch, und damit ist letztlich niemandem geholfen.

 

Wenden wir uns von der Akutphase der Therapiephase zu. Welche Möglichkeiten sehen Sie als Hirnforscher, um Traumata und Posttraumatische Belastungsstörungen zu behandeln?

Alexander Jatzko: Es gibt verschiedene Therapieformen, doch jede setzt letztlich die Verknüpfungsarbeit fort, welche ein Caregiver oder eine Notfallpsychologin im Idealfall bereits begonnen haben. Die zu behandelnde Person lernt unter anderem, ihre Gefühlszentren zu kontrollieren.

Die Expositionstherapie zum Beispiel lässt die Gedächtnisinhalte hochkommen und hält gleichzeitig das Grosshirn aktiv, damit nicht richtig verknüpfte Gedächtnisinhalte wieder mit dem Grosshirn verknüpft werden. Bei der EMDR-Methode – die Abkürzung steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing – wird das Grosshirn über Augenbewegungen oder über taktile Reize angeregt, aktiver zu sein und dadurch besser zu verknüpfen.

Optimal: Wer sich entspannen oder meditieren kann, denkt in dieser Phase weniger. Das Grosshirn kann dabei so aktiv werden, dass es das gesamte Gehirn unter Kontrolle bringt.

 

* Alexander Jatzko ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Klinik für Psychosomatik am Westpfalz-Klinikum in Kaiserslautern, Deutschland. An der Carelink-Freiwilligentagung 2015 hat er in einem Referat die neurophysiologischen Aspekte nach traumatischen Ereignissen beleuchtet und deren Konsequenzen für die Betreuung aufgezeigt. Das Interview wurde im Vorfeld der Carelink-Freiwilligentagung geführt.

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