Traumatisierte brauchen professionelle Hilfe

Wenn der Schreck nicht weicht.

Einschneidende, extreme Erlebnisse können traumatisieren. Solche Verletzungen sind zwar von aussen nicht sichtbar, doch sie müssen behandelt werden. Sonst droht die traumatisierte Person in einen Teufelskreis zu geraten. Die Spezialistin Jacqueline Schmid* hat an der Freiwilligentagung von Carelink eindringlich darauf hingewiesen – und an eine spezifische Art von Verantwortung appelliert, die jeder und jede trage.

Traumatische Erfahrungen sind überwältigend, lebensgefährlich, erschreckend – kurz: Sie sind menschlich nicht verkraftbar, denn sie liegen ausserhalb dessen, was der Mensch sonst kennt. Eine traumatisierte Person ist überzeugt, die Erfahrung nie überwinden zu können, oder sie glaubt, das alles sei ihr gar nicht widerfahren, so schlimm ist es. Das Gehirn verdrängt das Erlebte und splittet es auf, um das Ausmass des Ereignisses nicht als Ganzes spüren zu müssen.

 

Posttraumatische Belastungsreaktion

Probleme in den ersten sechs Monaten nach einem traumatischen Ereignis bezeichnen die Fachleute als posttraumatische Belastungsreaktion. Die Persönlichkeit eines Kindes zum Beispiel kann sich verändern. Es wird schreckhaft, reagiert verängstigt, hat Albträume und Schlafstörungen. Nach einem Trauma vermeidet ein Kind alles, was es an das Erlebnis erinnern könnte. In seinen Gedanken und Gefühlen aber durchlebt es immer und immer wieder den Schrecken und die Not. In einer der Ausprägungen der posttraumatischen Belastungsreaktion kann das Kind nicht mehr zwischen der Realität und seinen inneren Bildern unterscheiden. Es hat oft Mühe, sich zu konzentrieren, und seine schulischen Leistungen lassen empfindlich nach. Resultat: Das Kind zieht sich zurück und isoliert sich.

 

Posttraumatische Belastungsstörung

Wenn die Schreckensbilder im Kopf einer traumatisierten Person nach sechs Monaten nicht abzuklingen beginnen, sondern sich vielmehr noch verstärken, wenn die Person von Gefühlen und von Sinnes- und Körperempfindungen überschwemmt wird und in Gedanken all der Schrecken nach wie vor wiederkehrt, spricht die Fachwelt von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Das Vermeidungsverhalten nimmt zu, die traumatisierte Person wird empfindungslos, isoliert sich, verfällt in ein immer stärker werdendes Gefühl der Ohnmacht und vergisst einzelne Begebenheiten. Kinder und Jugendliche, die an einer PTBS leiden, sind übererregt und übermässig wachsam, und sie schlafen schlecht.

 

Ausgrenzung und Isolation

Unmittelbar nach einem belastenden Ereignis zeigt das Umfeld Sympathie und Verständnis: Verwandte und Bekannte bieten das Gespräch und Hilfe an. Nach einer gewissen Zeit aber verstehen sie die Reaktionen der traumatisierten Person nicht mehr und beginnen, diese wie auch das traumatisierende Ereignis selber zu verharmlosen. Allmählich machen sich dann Ungeduld und Irritation bemerkbar: «Nun, es ist schon so lange her, vergiss das jetzt doch, wir haben schon so viele Male darüber gesprochen.» Solche Kommentare sind in dieser Phase nicht selten.

Nochmals später wird an das Schamgefühl appelliert: «Schämst du dich nicht, dich immer zu beklagen? Andere erleben noch viel Schlimmeres und machen nicht so ein Theater.» Schliesslich wird die betroffene Person ausgegrenzt und grenzt sich selber aus. Sie fühlt sich unverstanden und fragt sich auch, ob sie überhaupt normal ist.

 

Therapie: je früher, umso besser

Ein nicht behandeltes Trauma kann zu Aggressionen gegenüber der Gesellschaft oder sich selber führen. Deshalb ist es wichtig, vorsichtig mit der Entwicklung der Reaktionen eines traumatisierten Menschen umzugehen. Je früher eine Traumatherapie stattfindet, umso eher lässt sich das Leid der betroffenen Person lindern: Sie muss die verhängnisvolle Entwicklung von Sympathie über Verharmlosung, Ungeduld und Schamappell bis zu Ausgrenzung, Aggressionen und Stigmatisierung nicht erleben. Statt im Trauma zu versinken, kann sie es mit externer Hilfe verarbeiten.

 

Ablauf in drei Phasen

Eine Traumatherapie beginnt mit der Phase der Stabilisierung. Danach kann sich die betroffene Person der Traumaverarbeitung widmen. In der dritten Phase dann kann sie sich wieder der Zukunft zuwenden. Für jede dieser Phasen stehen verschiedene Techniken zur Verfügung. Therapeutinnen und Therapeuten setzen sie je nach Alter und Präferenzen der traumatisierten Person ein. Seelisch verletzte Kinder und Jugendliche sind besonders ausgeprägt auf Halt, Wohlwollen und Unterstützung durch ihre sie betreuenden Erwachsenen angewiesen.

 

Hier ist Schweigen nicht Gold

Wer im Alltag an einem Menschen auffallende und beunruhigende Verhaltensveränderungen feststellt, soll sich vernetzen, sich mit anderen austauschen und die betreffende Person ansprechen. Diese soll wissen, dass sie nicht allein ist und dass ihr geholfen werden kann. In solchen Fällen ist Schweigen nicht Gold! Traumatische Erlebnisse und seelische Verletzungen bleiben oft unsichtbar. Im Gegensatz zu Unfällen, die auch körperliche Verletzungen verursachen, spielen sich andere traumatisierende Ereignisse im Verborgenen ab – Stichwort Misshandlungen oder sexuelle Übergriffe. Jeder und jede trägt deshalb Verantwortung, wenn er oder sie an einer Person auffallende Verhaltensänderungen beobachtet. «Augen zu» ist schlicht fehl am Platz.

 

* Lic. phil. Jacqueline Schmid ist als Psychotherapeutin FSP und als Traumatherapeutin DeGPT auf die traumazentrierte Psychotherapie für Kinder und Jugendliche spezialisiert. Sie hat auch das «Schweizerische Institut für Trauma Therapie SITT» gegründet. Das Institut vernetzt verschiedene Berufsgruppen, die sich mit Traumata befassen, und bietet ihnen Fortbildung und Supervision, einen Begegnungsort und ein Forum für fachlichen Austausch: www.sitt.ch.

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