Betroffene auch kulturell verstehen

Sanja Lukić und AOZ Medios bauen sprachliche Brücken.

Während des Bosnien-Kriegs in den neunziger Jahren kam Sanja Lukić als Dreizehnjährige mit ihren Eltern in die Schweiz. Seit Anfang 2011 leitet sie den interkulturellen Übersetzungsdienst AOZ Medios in Zürich. Ihre persönliche ist auch ihre berufliche Erfahrung: Integration beginnt mit sprachlicher Verständigung.

Frau Lukić, interkulturelles Übersetzen wird erst recht wichtig, wenn zwei Sprachen und Kulturen weit auseinander liegen. Welche Sprachen sind zurzeit besonders gefragt?

Sanja Lukić: Eindeutig Somalisch und Tigrinya, das ist eine der wichtigsten von neun Landessprachen in Eritrea. Doch auch Italienisch und Spanisch brauchen wir häufig. Gegenseitige Verständigung über Sprachgrenzen hinweg ist immer ein Thema – ungeachtet der geografischen Distanz. Erst aus der Verständigung kann Verständnis entstehen. Und Verständnis müssen alle aufbringen, wenn die Integration von Migrantinnen und Migranten gelingen soll.

 

AOZ Medios ist denn auch schwergewichtig im Migrations- und Integrationsbereich tätig. Viele der Sprachen, die Sie anbieten, muten ziemlich exotisch an. Auf der Liste, die Sie auf Ihrer Website www.aoz.ch/medios publizieren, finden sich rund neunzig Sprachen – von Albanisch und Amharisch bis Türkisch, Wolof und Zaghawa. Haben Sie tatsächlich für jede Sprache den Spezialisten oder die Spezialistin zur Hand?

Sanja Lukić: Ja, das ist richtig! Für das Übersetzen vor Ort im Grossraum Zürich arbeiten wir mit rund 260 Personen zusammen. Sie decken alle diese Sprachen ab, und wir haben sie alle in einer Datenbank erfasst. Im Nationalen Telefondolmetschdienst, den wir für das Bundesamt für Gesundheit BAG aufbauen, bieten wir zurzeit zwölf Sprachen an. Wenn es sein muss, steht eine Konferenzschaltung innert weniger Minuten, sodass der Auftraggeber mit seiner Klientin oder seinem Klienten zum Beispiel mühelos einen Termin vereinbaren oder eine kurze Frage klären kann, ohne dessen oder deren Muttersprache zu sprechen.

 

Wie stark wird denn Ihr Angebot beansprucht?

Sanja Lukić: An Spitzentagen erhalten wir 40 bis 60 Aufträge zum interkulturellen Übersetzen vor Ort. Daraus resultieren im Monatsdurchschnitt rund 1500 Übersetzungsstunden.

 

Sie nennen die Gesprächssituation zwischen Auftraggeber, Klient oder Klientin und übersetzender Person einen Trialog. Diese dritte Person im Dialog ist also mehr als eine Informationsvermittlerin.

Sanja Lukić: Ja, sie erklärt bei Bedarf und auf Wunsch der Gesprächsleitung auch kulturelle Eigenheiten – und zwar auf beiden Seiten. Dazu signalisiert sie im Gespräch, dass sie die Rolle der Übersetzerin kurz verlässt, um einen kulturellen Aspekt zu beleuchten. Was sie der einen Seite erklärt, übersetzt sie dann für die andere Seite, damit alle den gleichen Wissensstand haben. Das bedingt natürlich, dass die übersetzende Person nicht nur Muttersprache und Amtssprache sehr gut beherrscht, sondern auch die kulturellen Gepflogenheiten der beiden Sprachräume aus eigener Erfahrung und Anschauung kennt.

 

Welche weiteren spezifischen Regeln muss ein interkultureller Übersetzer oder eine interkulturelle Übersetzerin beachten?

Sanja Lukić: Selbstverständlich unterliegen gegen aussen alle der Schweigepflicht. Sie sind auch verpflichtet, alles zu übersetzen, und sie dürfen nichts hinzufügen. Auch wenn Klientinnen und Klienten in der Muttersprache mit ihnen sprechen können, haben sie deswegen keinen Anwalt in eigener Sache. Die übersetzenden Personen dürfen sich nicht instrumentalisieren lassen, und sie sind auch nicht verantwortlich für die Gesprächsführung.

 

Die Muttersprache liegt dem Menschen intuitiv auf der Zunge – vor allem wenn es um emotionale Gesprächsinhalte geht.

Sanja Lukić: Absolut! Darum finde ich auch unsere Zusammenarbeit mit Carelink so sinnvoll! Dass wir Caregivers und Notfallpsychologen bei der Betreuung Betroffener unterstützen können, die weder Deutsch noch Französisch, Italienisch oder Englisch als Muttersprache haben, macht die Dienstleistung von Carelink noch wertvoller. Auch hier können wir Verständnis schaffen für kulturelle Unterschiede, das erleichtert den notfallpsychologischen Zugang zu Betroffenen.

 

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