«Psychische Erkrankungen werden immer noch nicht ernst genommen.»
Interview mit Ursula Zybach, Public Health Schweiz.
Gesundheit ist nicht nur ein persönliches Anliegen. Gesundheit hat auch eine gesellschaftliche Ebene. Public Health Schweiz vernetzt Organisationen, die sich für die Gesundheit der Bevölkerung in der Schweiz engagieren. Ein Manifest plädiert nun für einen bewussteren Einbezug der psychischen Dimension: Stets geht es um Körper, Seele und Geist. Carelink unterstützt das Manifest. Ursula Zybach, Geschäftsführende Präsidentin von Public Health Schweiz, beleuchtet dessen Hintergründe.
Frau Zybach, die nationale Fachorganisation Public Health Schweiz setzt sich seit 42 Jahren für die öffentliche Gesundheit ein. Und doch ist Public Health Schweiz allgemein kaum bekannt. Warum?
Ursula Zybach: Fachpersonen und Fachorganisationen kennen den Verein Public Health Schweiz sehr wohl. Er bildet das themenübergreifende, interdisziplinäre gesamtschweizerische Netzwerk der Public-Health-Fachleute. Public Health Schweiz zählt heute 639 Einzelmitglieder, 96 Kollektiv- und 18 Gönnermitglieder.
Können Sie konkrete Massnahmen nennen, welche Public Health Schweiz unternommen hat, um die öffentliche Gesundheit zu fördern? Oder anders herum gefragt: Wie kann die Bevölkerung von Public Health Schweiz profitieren?
Ursula Zybach: Wir bieten jedes Jahr eine zweitägige Konferenz zu einem aktuellen Fachthema an. 2012 und 2013 widmeten wir sie den chronischen Erkrankungen, 2011 ging es um die Reorganisation der Gesundheitssysteme. Dadurch werden Fachpersonen auf neue Themen aufmerksam, und sie können neue Erkenntnisse oder Facherfahrungen miteinander teilen. In unseren fünf Fachgruppen Ernährung, Epidemiologie, Gesundheitsförderung, Mental Health und Global Health vernetzen sich Fachpersonen aus demselben Fachgebiet. Sie etablieren Arbeits- und Positionspapiere und tauschen Erfahrungen aus. Wir engagieren uns auch im politischen Kontext und nehmen zu wichtigen Vorlagen Stellung. Im vergangenen Jahr zum Beispiel haben wir den Abstimmungskampf zum nationalen Epidemiengesetz geführt, das schliesslich mit 60 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde.
An der diesjährigen «Swiss Public Health Conference» haben Sie das «Schweizer Manifest für Public Mental Health» vorgestellt. Es verlangt einen stärkeren Einbezug der psychischen Dimension von Gesundheit, eine somit integrale Betrachtung, und zwar auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene. Welches sind, noch konkreter, die Ziele des Manifests?
Ursula Zybach: Das Manifest soll dem Thema der psychischen Gesundheit im alltäglichen Handeln von Fachwelt, Gesellschaft und Politik zu grösserer Beachtung zu verhelfen. Es bündelt Forderungen zu psychischer Gesundheit an die Adresse von Berufspersonen, Entscheidungsträgern und Politik. Zudem zielt es darauf ab, einerseits die persönlichen Ressourcen der einzelnen Menschen zu stärken und andererseits die Lebensbedingungen im Sinne der psychischen Gesundheit positiv zu beeinflussen. Das Manifest formuliert Handlungsansätze in den Bereichen Sensibilisierung, Gesundheitsförderung, Prävention, Behandlung und Unterstützung von Betroffenen, (Re-)Integration und Selbsthilfe. Gegen neunzig nationale, kantonale und private Organisationen aus dem Gesundheits- und Bildungswesen sowie aus der Gesundheitspolitik, von der Akademischen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege über Carelink und die Dargebotene Hand bis zum Departement Gesundheit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, sie alle unterstützen das «Schweizer Manifest für Public Mental Health».
Messen wir in der Schweiz der psychischen Gesundheit tatsächlich noch zu wenig Bedeutung bei?
Ursula Zybach: Das Thema der psychischen Gesundheit fristet in der Schweiz immer noch ein Schattendasein. Psychische Erkrankungen werden oft verharmlost oder nicht ernst genommen. Jede zweite, in der Schweiz wohnhafte Person ist gemäss Schätzungen mindestens einmal im Leben von einer psychischen Störung betroffen. Das Spektrum reicht von vorübergehenden depressiven Verstimmungen von wenigen Tagen bis hin zum Suizid, von einmaligen Panikattacken bis zum Verlust der Arbeitsfähigkeit. Insgesamt verursachen psychische Störungen und Erkrankungen volkswirtschaftliche Kosten von schätzungsweise mehr als elf Milliarden Franken pro Jahr – Tendenz steigend. Trotzdem werden psychische Erkrankungen in Gesellschaft und Politik immer noch weniger ernst genommen als andere Krankheiten, und Betroffene werden zum Teil diskriminiert.
Gemäss Einleitung zum Manifest richtet es sich an «Berufstätige in den relevanten Aufgabenfeldern der Gesundheitsförderung, Prävention, Behandlung und (Re-)Integration sowie an die privaten wie auch die öffentlichen Entscheidungsträgerinnen und -träger». Wie ist deren Reaktion darauf?
Ursula Zybach: Das Manifest ist in einem breiten partizipativen Prozess entstanden. Dies hat dazu geführt, dass sich schon im Vorfeld der Konferenz viele Mitarbeitende ganz unterschiedlicher Organisationen mit dem Thema der psychischen Gesundheit auseinander gesetzt und so auch ihr Netzwerk gestärkt haben. Wir haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Anfragen zum Manifest erhalten und freuen uns, dass es so viele Organisationen unterstützen wollen. Das heisst gleichzeitig, dass sich ein noch viel grösserer Kreis von Fachpersonen mit der Thematik auseinander setzt. Weitere Interessierte können das Manifest ebenfalls unterstützen, die elektronische Version des Manifests wird regelmässig aktualisiert.
Wie stellt sich das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zum «Schweizer Manifest für Public Mental Health»?
Ursula Zybach: An unserer Konferenz sass Stephan Spycher als Vertreter des BAG auf dem Podium. Er fand das Manifest noch etwas zu brav. Wir werden deshalb noch knappere und kühnere Forderungen stellen, die wir dem BAG zukommen lassen werden.
Carelink unterstützt das «Schweizer Manifest für Public Mental Health», das Sie im Wortlaut im Anhang finden. Zudem ist Carelink Mitglied des Netzwerks Psychische Gesundheit Schweiz. Dessen Netzwerktagung hat mit der «Swiss Public Health Conference» stattgefunden, an der das «Schweizer Manifest für Public Mental Health» lanciert wurde.