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Notfallseelsorge: Vernetzung als Erfolgsfaktor

Interview mit Paul Bühler, Präsident Notfallseelsorge Schweiz.

Paul Bühler hat die Arbeitsgemeinschaft Notfallseelsorge Schweiz (AG NFS CH) von Anfang an mitgeprägt. Ende 2017 wird er als Präsident zurücktreten. Die Vernetzung zwischen verschiedenen Kirchen und Religionen, aber auch mit Betreuungs-, Einsatz- und Rettungskräften ist für ihn essenziell. Wo steht die AG NFS CH heute? Welches sind ihre nächsten Ziele?

Herr Bühler, vor rund 15 Jahren haben Sie die Arbeitsgemeinschaft Notfallseelsorge Schweiz mitgegründet. Wie kam es dazu?

Paul Bühler: Es ist eine Geschichte der Vernetzung. Schon in meiner Zeit als Armeeseelsorger für die Rettungstruppe Anfang der neunziger Jahre haben wir uns mit dem Thema Notfallseelsorge auseinander gesetzt. Ich erfuhr damals, dass es in Deutschland und Österreich da und dort bereits Notfallseelsorge-Teams gab. Mir ging es vorerst darum, die Truppe auf Katastrophenhilfe-Einsätze vorzubereiten. Wir konzentrierten uns in diesen Ausbildungen in erster Linie darauf, die Armeeangehörigen auf der menschlichen Ebene vorzubereiten. Wir besprachen Fragen wie: Welche «Katastrophen» habe ich persönlich schon erlebt? Wie reagieren andere auf ein belastendes Erlebnis? Wie kann ich schwierige Ereignisse verarbeiten? Solche Präventivmassnahmen waren zu jenem Zeitpunkt neu.

Das Jahr 2000 änderte vieles: Im Oktober riss ein Erdrutsch in Gondo 13 Menschen in den Tod und zerstörte einen Drittel des Walliser Grenzdorfs. Da zeigte sich, dass die Notfallseelsorge zwischen den Kantonen koordiniert werden musste. 33 Seelsorgende und Interessierte trafen sich noch im Herbst 2000 zum Gedankenaustausch. Sie stammten aus den zehn Kantonen Aargau, Basel-Stadt, Basel-Land, Bern, Freiburg, Genf, Luzern, St. Gallen, Solothurn und Zürich. Dazu stiessen anschliessend Fachleute aus kantonalen Führungsgremien sowie Armee- und Zivilschutzangehörige, die sich untereinander und über die Kantonsgrenzen hinweg kannten. Am 1. Mai 2002 gründeten wir dann die ökumenisch ausgerichtete Arbeitsgemeinschaft Notfallseelsorge Schweiz.

 

Damit gaben sich zumindest diese zehn Kantone eine Organisation für Notfallseelsorge. Welche Ziele verfolgte die Arbeitsgemeinschaft in ihren Anfängen?

Paul Bühler: Es ging uns in erster Linie darum, eine Ansprechpartnerin für Staat und Kirche zu sein. Die verschiedenen, kantonal organisierten Teams sollten nach schweren Ereignissen mit Notfallseelsorgerinnen und -seelsorgern zusammenarbeiten. Dabei stellten sie allerdings fest, dass die Ausbildungsniveaus sehr unterschiedlich waren. Parallel dazu war beim Koordinierten Sanitätsdienst des Bundes das Nationale Netzwerk Psychologische Nothilfe, kurz NNPN, am Entstehen. Mit der Arbeitsgemeinschaft Notfallseelsorge Schweiz, kurz AG NFS CH, bekam das NNPN eine kirchlich und religiös orientierte Ansprechpartnerin auf nationaler Ebene. Das NNPN vereint seither Notfallseelsorgende, Notfallpsychologen und Fachpersonen für psychosoziale Nothilfe. Es übernahm auch die Aufgabe, einheitliche Standards für Ausbildung und Einsatz auszuarbeiten.

 

Notfallseelsorge, Notfallpsychologie, psychosoziale Nothilfe: Mehrere Begriffe für das Gleiche oder unterschiedlichen Aufgaben?

Paul Bühler: Ob Notfallseelsorge, Krisenintervention, psychosoziale Nothilfe, – je nach Land und je nach Kanton tragen sie unterschiedliche Namen. In der Schweiz heissen diese Teams in den meisten Fällen Careteams – ein neutraler Begriff. In Deutschland hört man auch den Begriff KIT, die Abkürzung für Kriseninterventionsteam. Doch alle haben das gleiche Ziel: Betroffene Menschen nach einem tragischen Ereignis zu betreuen und so zu stabilisieren.

In der zweiten Phase können natürlich die berufsspezifischen Eigenheiten ins Spiel kommen. Für die Notfallseelsorge heisst das, je nach Bedürfnissen der Betroffenen: Abschiedsgebete bei Verstorbenen, spirituelle Begleitung, Rituale und allenfalls das Beiziehen entsprechender Religionsvertreter. Prinzipiell betreut die Notfallseelsorge alle von einem schwierigen Ereignis Betroffenen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit.

 

In den meisten Kantonen setzen sich die Careteams aus Notfallseelsorgern, Notfallpsychologen und Caregivers zusammen. In vereinzelten Kantonen bestehen die Teams ausschliesslich aus Notfallseelsorgern. Woher dieser Unterschied?

Paul Bühler: Die Unterschiede sind eher historisch als fachlich gewachsen. Wir von der Notfallseelsorge haben vielleicht eine grössere Zeitflexibilität als andere Berufsgattungen.

Bei den Einsätzen geht es zuerst darum, die Bedürfnisse der Betroffenen auszumachen und bei Bedarf andere Fachleute beizuziehen. Sind Notfallpsychologen bereits vor Ort, können ihnen Betroffene direkt zugewiesen werden. Andernfalls bieten Teams, die ausschliesslich aus Notfallseelsorgenden bestehen, bei Bedarf Notfallpsychologen auf. Die Triage, die Betreuung der Betroffenen und ihre Stabilisierung sind die Hauptaufgaben der kantonalen Careteams, die zusammen mit den Blaulichtorganisationen direkt am Ort des Geschehens arbeiten.

 

Rückblickend auf die vergangenen 15 Jahre: Was war für Sie das Wichtigste?

Paul Bühler: Eindeutig die Integration der NFS in die kantonalen Gremien. Heute arbeiten die Careteams sehr effizient und effektiv mit den Blaulichtorganisationen zusammen. Die Careteams nehmen den öffentlichen Auftrag der Betreuung wahr. Diese enge Zusammenarbeit ist essenziell und das wichtigste Ergebnis der Arbeit, die wir in den vergangenen 15 Jahren geleistet haben. Zudem freut es mich, dass unterschiedliche Fachleute im NNPN vertreten sind und gemeinsam auf die Qualität der Betreuung der Betroffenen achten.

 

Und welches sind die Herausforderungen in den nächsten Jahren?

Paul Bühler: Weiterhin die Vernetzung, die in unserer föderalistischen Schweiz eine besondere Herausforderung darstellt. Jeder Kanton organisiert sich ja aus geografischen, rechtlichen und administrativen Gründen selber.

In der Krise Köpfe zu kennen, ist wichtig, sehr wichtig sogar. Und dies geht nur, wenn die verschiedenen Exponenten sich treffen, sich austauschen, sich neuen Gegebenheiten anpassen und am gleichen Strick ziehen. Bei einem Grossereignis müssen diese Organisationen jedoch koordiniert und nach der gleichen Philosophie arbeiten. Dies ist nur möglich mit einheitlichen Standards wie denjenigen des NNPN.

Innerhalb der AG NFS CH müssen wir unsere Statuten den veränderten Verhältnissen anpassen. Zur Entlastung des Vorstandes wird ab 1. Januar 2017 Dr. theol. Beat Weber die Stelle eines Geschäftsführers einnehmen.

 

 

Vernetzung: die Herausforderung auf allen Ebenen

Carelink ist wie die kantonalen Careteams als Einsatz- und Ausbildungsorganisation NNPN-zertifiziert. Im Unterschied zu den kantonalen Careteams agiert Carelink in der Regel im Auftrag der Privatwirtschaft – es sei denn, die Organisation werde von einem Kanton beigezogen. Die kantonalen Careteams werden durch die Blaulichtorganisationen aufgeboten und betreuen Betroffene während der ersten Stunden vor Ort. Anschliessend können Unternehmen und Institutionen, die mit Carelink eine Leistungsvereinbarung abgeschlossen haben, ihre Fürsorgepflicht gegenüber Mitarbeitenden, Kunden und deren Angehörigen auf gleich hohem, professionellem Niveau wahrnehmen. Mit Carelink sind sie in der Lage, Betroffene nach dem Ereignis emotional, psychologisch und praktisch zu betreuen. Carelink ist in doppeltem Sinn vernetzt: Die Organisation integriert sich in die Strukturen und Krisenstäbe ihrer Kunden, und sie ist es gewohnt, mit Blaulichtorganisationen, Behörden und kantonalen Careteams zusammenzuarbeiten. Krisenstäbe und Human-Resources-Abteilungen von Unternehmen können auch auf Carelink zurückgreifen, um ihr Carekonzept auszuarbeiten und das Bewältigen von Notfällen und Krisen zu üben.

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