Wie geht Selbstfürsorge? Andi Zemp zeigt Wege auf.
Personen mit Führungsfunktion müssen nicht zuletzt sich selber führen. Indem sie sich treu bleiben und auf Ausgleich achten, sorgen sie für sich selbst. Wie geht das genau? Andi Zemp* macht dazu ein paar einfache, einleuchtende Gedankengänge.
Banal gefragt, Herr Zemp: Gibt es ein Rezept, wie Vorgesetzte für sich selbst und ihr eigenes Wohlergehen sorgen können?
Andi Zemp: Egal ob Führungskraft oder nicht: Jeder Mensch sollte lernen, für sein psychisches Wohlbefinden selbst zu sorgen. Dafür braucht es unter anderem einen Ausgleich zur Arbeit, und dabei geht es gemäss meiner Erfahrung weniger um die vielzitierte Work-Life-Balance als vielmehr um die Balance zwischen Spannung und Entspannung: Wer sich privat entspannen kann, steckt beruflichen Stress besser weg. Wenn hingegen die private Situation angespannt ist, weil es zum Beispiel in der Partnerschaft hapert oder ein Familienmitglied intensiver Pflege bedarf, sollte zum Ausgleich die berufliche Arbeit entspannend wirken.
Können Vorgesetzte denn überhaupt entspannend arbeiten?
Andi Zemp: Machen wir uns nichts vor: Viele Vorgesetzte haben Phasen in ihrem Arbeitsleben, in denen weniger läuft. Dadurch haben sie sehr wohl Möglichkeiten zum Entspannen. Auf jeden Fall können sie ihre Arbeitsbelastung eher selber regulieren und Aufgaben auch delegieren. Das können Untergebene nicht oder zumindest nicht im gleichen Ausmass.
Was, wenn eine vorgesetzte Person ihrerseits eine vorgesetzte Person hat? Das ist ja im mittleren Management so.
Andi Zemp: Solche Sandwich-Positionen sind zugegeben am schwierigsten. Personen im mittleren Management sehen sich Erwartungen von oben und von unten ausgesetzt, und nicht zuletzt stellen sie auch Erwartungen, manchmal überhöhte, an sich selbst.
Und wie geht jemand nun mit diesem Druck um?
Andi Zemp: Grundsätzlich: Wer die eigenen Bedürfnisse kennt und ihnen Raum gibt, kann am besten mit Druck, Ansprüchen, Erwartungen und Stress umgehen. Konkret gilt es zu unterscheiden zwischen Person und Funktion: Ich als Person brauche Raum, und ich mache meine Arbeit auf meine Art. Ich bin als Mensch einzigartig und – entgegen der gängigen Floskel – nicht ersetzbar. Meine Funktion hingegen, die kann auch jemand anders ausüben.
Diese Haltung setzt allerdings ein gesundes Selbstbewusstsein voraus.
Andi Zemp: Ja, Selbstbewusstsein ist hilfreich. Selbstbewusstsein lässt sich allerdings auch entwickeln, so es daran mangeln sollte.
Viele Menschen ziehen ihr Selbstbewusstsein fast ausschliesslich aus der Arbeit. Doch der Selbstwert darf nicht nur von der Arbeit abhängen. Der Selbstwert hat primär nichts mit Leistung zu tun! Ein einfaches Beispiel aus dem Privatleben: Man mag eine Person nicht, weil sie vielleicht gut kocht, sondern weil sie ist, wie sie ist. Wir kommen alle als Originale auf die Welt und sind einzigartig. Bei manchen Menschen habe ich den Eindruck, dass sie – bewusst oder unbewusst – viel unternehmen, um als Kopien zu sterben. Dabei sollten wir bei uns und damit Originale bleiben. Das ist die Aufforderung, und das ist zugleich die Herausforderung.
Und wenn das jemand allein nicht schafft?
Andi Zemp: Dafür gibt es Hilfe – man muss nicht immer gleich zum Psychotherapeuten oder zur Psychologin gehen. Ich kenne beispielsweise eine männliche Führungskraft, die geht alle zwei Wochen in die Körpertherapie. Dieser Mann merkt dadurch schnell, ob er bei sich ist, sich spüren und sich entspannen kann. Im Stress entwickelt der Mensch einen Tunnelblick, und er beraubt sich dadurch jeglicher Möglichkeit zum Entspannen. Sich hingegen etwas zuliebe tun, etwas für sich zu machen und abzuschalten, das öffnet die Sinne.
Viele gehen deshalb joggen!
Andi Zemp: Bewegung ist auf jeden Fall gut. Joggen kann aber auch sehr kompetitiv sein, wenn man gegen die Uhr joggt. Wer sich sonst schon in einem wettbewerbsgetriebenen, stressigen Umfeld bewegt, tut sich damit nichts Gutes. Den Fehler machen viele. Dem Körper ist es letztlich egal, ob der Stress positiv oder negativ ist. Er schüttet einfach Stresshormone aus. Entgegen der landläufigen Vorstellung macht der Psyche auch zu viel positiver Stress etwas aus.
Fazit: Auf sich zu hören und sich selbst wertzuschätzen, ist der erste und wichtigste Schritt zur Selbstfürsorge.
*Andi Zemp: Absolut! In Umfragen unter Mitarbeitenden beklagen sich oft viele über einen Mangel an Wertschätzung. Die vorgesetzte Person kann dieses Feedback in den wenigsten Fällen verstehen. Dabei müssen beide, Vorgesetzte wie Untergebene, unterscheiden lernen: Wertschätzung bezieht sich auf die Person, Lob auf die Arbeit. Im Extremfall kann ich eine Person loben, ohne sie wertzuschätzen. Die Wertschätzung beginnt bei einem selbst.
Andi Zemp ist Psychologe, Notfallpsychologe und eidg. anerkannter Psychotherapeut FSP. Er betreibt in Bern seine eigene psychotherapeutische Praxis und arbeitet als Vertrauenspsychologe für verschiedene Unternehmen und Organisationen. Seit 2005 wirkt er im Freiwilligenteam von Carelink mit. Zudem ist er Dozent für Notfallpsychologie in der Aus- und Weiterbildung «Care&Peer Practice» (CPP), die Carelink im Auftrag des Koordinierten Sanitätsdienstes (KSD) organisiert und koordiniert.