Ukraine: Damit das Verarbeiten gelingt.

Das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) in Wabern bei Bern geht davon aus, Menschen aus der Ukraine zu behandeln. Silvan Holzer, Fachbereichsleiter Traumafolgestörungen Kinder und Jugendliche, hält im Interview auch Tipps parat, wie sich zum Beispiel Gastfamilien verhalten sollen.

Herr Holzer, Sie erwarten Flüchtende aus der Ukraine, die bei Ihnen Hilfe suchen.

Silvan Holzer: Ja, leider müssen wir davon ausgehen, dass Ukrainerinnen und Ukrainer aller Altersgruppen Erfahrungen haben machen müssen, welche die individuellen und familiären Bewältigungsstrategien übersteigen. Diese Menschen entwickeln möglicherweise eine Traumafolgestörung.

Stellen sich da die gleichen Herausforderungen wie bei anderen Kriegsopfern?

Silvan Holzer: Unsere Unterstützung wird davon abhängen, was die Menschen, die zu uns kommen werden, individuell erlebt haben und wie sie persönlich damit umgehen. Allerdings können wir die Auswirkungen der erstmaligen Anwendung des S-Status, des Schutzbedürftigen-Status, nicht abschätzen. Einerseits dürfte dieser den Stress nach der Flucht mildern. Doch wie werden Menschen, denen dieser Schutzstatus nicht zuteilwird, damit umgehen?

Auch Menschen in der Schweiz werden mit Menschen aus der Ukraine zusammentreffen. Gibt es Tipps im Umgang mit traumatisierten Geflüchteten?

Silvan Holzer: Es gibt nicht «die Flüchtlinge aus der Ukraine» und erst recht nicht ein Patentrezept für den Umgang mit «Flüchtlingen». Jedes Kind, jeder Erwachsene, jede Familie ist einzigartig, und die Bedürfnisse sind unterschiedlich. Was jedoch alle brauchen: ein wertschätzendes, emotional stabiles Gegenüber, Sicherheit, klare Strukturen. Die Begegnung erfordert Zeit, Geduld und Verständnis – keine Sonderbehandlung, kein Mitleid, sondern ein sensibles Mit- und Einfühlen.

Zeigen Sie Interesse am Kind und an seinem Leben, lassen Sie zu, dass es nach seinem Bedürfnis erzählt, und akzeptieren Sie, wenn es z.B. plötzlich spielen will. Fragen Sie bei Schilderungen nicht recherchierend nach. Seien Sie Zeuge, beziehen Sie klar Stellung gegenüber jeglicher Form von Gewalt. Wenn Sie sich sicher und kompetent fühlen – und nur dann –, fragen sie nach, was oder wer in dieser Situation geholfen hat, im weitesten Sinne zu überleben.

Eine zeitnahe Wiederherstellung einer Alltagsnormalität ist für die Kinder wichtig – und damit auch eine schulische Struktur. Diese sollte Normalität vermitteln ohne zu grosse Entscheidungsfreiheit – obwohl gut gemeint, könnte sie überfordern. Die Schule kann rasch zu einem sicheren Ort werden, indem die Kinder gleiche Rechte und Pflichten haben wie alle anderen und gegenüber Diskriminierung und Gewalt eine Null-Toleranz-Kultur besteht.

Wir müssen uns bewusst sein, dass die Sorgen, die Ängste und die Ohnmacht der Menschen aus der Ukraine bei ihrer Ankunft in der Schweiz nicht enden werden. Sie werden sich um geliebte Familienmitglieder, Verwandte und Freunde sorgen, die zurückgeblieben sind. Sie werden sich medial informieren wollen. Es besteht das Risiko einer Omnipräsenz des Kriegs. Wenn immer möglich sind deshalb medienfreie Sequenzen hilfreich. Schützen Sie Kinder gegenüber medialen Bildern des Kriegs, ohne das Gespräch über den Konflikt zu vermeiden. Empfehlenswert ist, entwicklungsangemessen mit den Kindern darüber zu sprechen und ihre Fragen kurz und klar zu beantworten. Hilfreich ist auch, wenn es Eltern bzw. Müttern gelingt, eigene starke Gefühle wie z.B. Trauer als normale menschliche Reaktionen zu erklären, die wieder weniger werden. Damit wissen die Kinder, dass es Platz hat für ihre Neugier, dass sie sich nicht um die Eltern oder die Mutter sorgen müssen, dass sie keine Angst haben müssen, sie zu verlieren, sondern dass sie verlässlich für die Kinder da sind.

 

Wertvolle Informationen:
Broschüren
– Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge in Schulen, Kindergärten und Freizeiteinrichtungen, H. Shah, Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (www.ztk-koeln.de)
– Trauma bei Kindern und Jugendlichen, M. Dreiner, Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (www.ztk-koeln.de)
– Trauer bei Kindern und Jugendlichen. Für alle, die mit trauernden Kindern und Jugendlichen zu tun haben. H. Brüggenmann & M. Schweichler, Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (www.ztk-koeln.de)
– TRAUMA – Was tun? Damit Sie sich nicht mehr so hilflos fühlen müssen. M. Dreiner Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (www.ztk-koeln.de)
– Wenn das Vergessen nicht gelingt. Informationen zur Posttraumatischen Belastungsstörung. Schweizerisches Rotes Kreuz (www.migesplus.ch)
– Mehr wissen, besser verstehen, bewusster handeln. Informationen für hauptamtliche und freiwillige Mitarbeitende, die mit traumatisierten Geflüchteten zusammentreffen. Schweizerisches Rotes Kreuz (www.migesplus.ch)

Bücher
– Weil du mir so fehlst, ein Bilderbuch fürs Abschiednehmen, Vermissen und Erinnern von A. Boss & A. Klammt
– Leuchtturm sein. Trauma verstehen und betroffenen Kindern helfen. T. Kern. Kösel
– Erste Hilfe für traumatisierte Kinder. A. Kürger. Patmos
– Powerbook. Erste Hilfe für die Seele. Trauma – Selbsthilfe für junge Menschen. A. Krüger. Elbe und Krüger
– Winstons Wish, Zehn Rechte für trauernde Kinder und Jugendliche

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