Interkulturelle Aspekte im Kontakt mit Betroffenen

 Im medizinischen und therapeutischen Alltag sowie in Krisensituationen betreuen wir Menschen mit unterschiedlichem sprachlichen, soziokulturellen sowie spirituell-religiösen Hintergrund. Dies ist oft bereichernd, manchmal herausfordernd, gelegentlich kann es auch zu Missverständnissen und Konflikten führen. Dr. med. Birgit Traichel beleuchtet das Thema aus Sicht der Palliativmedizin.

Die Herausforderungen bei der Betreuung von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund können sich in unterschiedlichen Bereichen zeigen:

  • Sprache
  • Bedeutungen, Codes und Tabus
  • Kommunikationsstil: linear-direkt («Low-Context») vs. zirkulär («High-Context»)
  • Sozial akzeptiertes Nähe-Distanz-Verhalten (physisch, visuell, emotional)
  • Spannungsfeld zwischen Hierarchie und Vertrauen
  • Verhältnis Individuum versus Gemeinschaft
  • Beziehung zwischen Mann und Frau
  • Strategien der Konfliktbewältigung
  • Umgang mit und Kommunikation über Sterben und Tod

Wichtig ist bei diesem Thema in jedem Fall ein hohes Mass an Sorgfalt und Differenzierung, um nicht – häufig auch unbewusst vorhandene – kulturelle Vorbehalte und Stereotype zu replizieren. Menschen, auch wir Caregivers – neigen in einer zunehmend komplexen Welt zu zunächst pragmatisch scheinenden Kategorisierungen und Vereinfachungen, die dem individuellen Gegenüber aber nur selten gerecht werden.
Auch können Menschen aus demselben Herkunftsland einen sehr unterschiedlichen biographischen, bildungs- und sozioökonomischen Hintergrund haben, den wir mit „einfachen“ kulturellen Konzepten nicht erfassen. Und nicht zuletzt besteht die Gefahr, dass Konflikte zwischen Betroffenen und Behandelnden trotz zahlreicher anderer Faktoren vorwiegend als kulturell (fehl)interpretiert werden.

Trotz all dieser Einschränkungen ist ein möglichst breites Wissen um kulturelle Eigenheiten und Konstanten – neben Neugier und Offenheit in der Interaktion mit Menschen aus anderen Kulturen – ausgesprochen hilfreich. Im Folgenden gehe ich daher auf einige ausgewählte Aspekte der Interkulturalität ein.

Sprache
In vielen Situationen steht – zumindest auf den ersten Blick – zunächst vor allem die Sprachbarriere im Vordergrund. Ein ungenügendes Sprachverständnis zwischen Betroffenen und Caregivers kann nachweislich die Zufriedenheit mit der Betreuung verschlechtern. Im medizinischen Kontext hat es zum Teil einen massiven Einfluss auf den Outcome zahlreicher Behandlungen. Eine Übersetzungstätigkeit durch Angehörige, die zumeist der jüngeren Generation angehören, wird im Alltag aus pragmatischen Gründen häufig praktiziert, kann jedoch mit zahlreichen Fallstricken verbunden sein. So neigen Angehörige in ihrem Wunsch nach Schonung der Betroffenen dazu, vor allem schlechte Nachrichten abgeschwächt oder auch gar nicht zu übersetzen. Betroffene wiederum können aus Scham gegenüber ihren Zugehörigen relevante Themen verschweigen oder beschönigen.
Es wird generell empfohlen, zumindest punktuell in gewissen Schlüsselmomenten, wie zum Beispiel bei der Diagnoseeröffnung einer schwerwiegenden Erkrankung oder bei komplexer Entscheidungsfindung, professionelle Übersetzende beizuziehen, die idealerweise eine Zusatzqualifikation im Bereich des interkulturellen Dolmetschens haben.

Kommunikationsstile – Codes – Tabus
Zusätzlich zur Sprachbarriere können auch unterschiedliche Kommunikationsstile und Bedeutungsinhalte das therapeutische Verhältnis komplizieren. Die Kulturanthropologie stellt das Konzept einer explizit-sachbezogenen und zielgerichteten, vorwiegend westlichen Low-Context-Kommunikation einer indirekt-kontextuellen High-Context-Gesprächskultur gegenüber, wobei letztere vor allem in traditionelleren Kulturen gepflegt wird. Bei letzterer wird zunächst ein sozialer und emotionaler Kontext zwischen den Sprechenden aufgebaut. Erst im Rahmen dieses Beziehungsgeflechts können dann Inhalte «kontextuell-indirekt» vermittelt werden.
Obschon mit der Globalisierung eine Angleichung stattgefunden hat, ist dieser High-Context-Kommunikationsstil vor allem in Ländern Ostasiens, im Mittleren Osten sowie in Subsahara-Afrika weit verbreitet, und das Wissen darum kann die Informationsvermittlung sehr erleichtern.
So ist beispielsweise das direkte Ansprechen von Themen wie Sterben und Tod in vielen High-Context-Kulturen unüblich, weil es tabuisiert ist oder als offensiv-verletzend wahrgenommen wird.
Dennoch ist es über einen indirekten («kontextuellen») Weg – idealerweise im Rahmen einer als wertschätzend erlebten therapeutischen Beziehung – oft gut möglich, den entsprechenden Sachverhalt in einer für die Betroffenen akzeptablen Form zu vermitteln. Dies erfordert unserseits die Bereitschaft, mit Halbausgesprochenem und Angedeutetem umgehen zu können. Sehr hilfreich können hierbei, wie bereits oben erwähnt, kultursensible Übersetzende sein, welche die entsprechenden «Codes» beherrschen.

Individuum und Gemeinschaft
Das Gegensatzpaar Individualismus versus Kollektivismus wird in der Sozialpsychologie als eine der Dimensionen des kulturspezifischen Ländervergleichs aufgeführt. Hierbei werden als Länder mit einer besonders hohen Ausprägung an Gemeinschaftsdenken nebst mehreren Ländern Lateinamerikas insbesondere China und der Mittlere Osten aufgeführt.
In unserer westlichen Kultur steht seit mehreren Jahrzehnten das Idealbild des autonom entscheidenden Individuums im Vordergrund, das nach Erhalt aller Informationen und reiflicher Erwägung seine Entscheidungen zu entsprechenden Behandlungen selbstbestimmt trifft. Dies ist in vielerlei Hinsicht ein grosser gesellschaftlicher und medizinethischer Fortschritt, allerdings sind auch bei uns nicht wenige Menschen mit diesem Anspruch überfordert.
In vielen traditionell geprägten Kulturen kann eine schwere Erkrankung bzw. Beeinträchtigung eines Angehörigen einen deutlichen Rollenwechsel nach sich ziehen. Der bzw. die Betroffene wird durch die Zugehörigen entlastet und von Verantwortlichkeiten und Entscheidungen freigestellt, gleichzeitig hiermit jedoch auch «entmündigt». Dies kann für manche Menschen erleichternd und tröstlich sein, von anderen jedoch auch als bevormundend empfunden werden.

Strategien für die Betreuungsarbeit
Wie sollen wir als Betreuende mit solchen Situationen umgehen?
Häufig ist es bereits hilfreich, die unterschiedlichen kulturellen Konzepte hinter diesen Konflikten zu erkennen – und es ist spannend, in diesem Rahmen uns auch unserer eigenen Vorstellungen, Prägungen und Konzepte bewusst zu werden und diese gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen.
Entsprechende Informationen über die Vorstellungen und Kommunikationsstile ethnischer und religiöser Gruppen und die Unterstützung durch «kultursensible» Übersetzende können zum Verständnis hilfreich sein. Am wichtigsten für eine gelingende Verständigung erscheint immer noch die eigene Haltung: eine Haltung der Offenheit, Zugewandtheit und des Interesses am Anderen sowie die Bereitschaft, sich auch auf gedanklich ungewohntes Terrain zu begeben.
Auch sollten wir – bei aller Kultursensibilität – kulturelle Unterschiede nicht überbewerten. Die zentralen Gemeinsamkeiten sind generell viel grösser als die Unterschiede. In praktisch allen Kulturen dieser Welt sind die gleichen Werte zentral – Menschen möchten geliebt werden. Gutes tun hat einen hohen Stellenwert. Die Familie ist fast allen Menschen sehr wichtig, ebenso eine Form von Glauben oder Spiritualität. Die meisten Menschen mögen Humor – und als verbindendste Form der Interkulturalität kann uns in manchen Situationen am besten ein gemeinsames herzhaftes Lachen weiterhelfen.

Dr. med. Birgit Traichel ist Leitende Ärztin Palliative Care am Kantonsspital Münsterlingen.