Für eine Sorgekultur zwischen Jung und Alt
Gerontologe Andreas Kruse im Interview
Sie hörten ihm gebannt zu: Vor den Carelink-Freiwilligen sprach Andreas Kruse über den «Umgang mit älteren Menschen in der Krise». Andreas Kruse, ein gefragter und leidenschaftlicher Referent, leitet das Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg. Im Interview, das Carelink nachträglich mit ihm geführt hat, weist er auf das Potenzial hin, das im Austausch zwischen Jung und Alt steckt. «Menschen, die sich getragen wissen, können auch in Grenzsituationen widerstandsfähiger sein.»
Herr Kruse, Care hat für Sie als Gerontologe eine ganz besondere Bedeutung: Sie plädieren für eine Sorgekultur zwischen den Generationen. Dazu betonen Sie die seelisch geistige Dimension des Alters, die verschiedene Generationen verbinden kann. Allerdings werden ältere Menschen heute sehr schnell über ihre körperliche oder gesundheitliche Verfassung definiert und so häufig auch diskriminiert. Wie lässt sich diese gesellschaftliche Fehleinschätzung korrigieren bzw. diese Sorgekultur etablieren?
Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse: Wir sollten sehr viel mehr Gelegenheitsstrukturen für die Begegnung zwischen den Generationen schaffen, vor allem für gemeinsame „Projekte“ von Jung und Alt, in denen sich jüngere und ältere Menschen gegenseitig befruchten können. Das gilt schon für die Arbeitswelt, in der Expertenwissen eine Domäne älterer Mitarbeitenden bildet, die einen bedeutenden Hintergrund für den Mut jüngerer Mitarbeitenden zu innovativen Problemlösestrategien darstellen. Das gilt auch für den bürgerschaftlichen Bereich, in dem sich jüngere und ältere Menschen gemeinsam in sozialen, kulturellen und politischen Aktivitäten engagieren. In eigenen Studien zu den Effekten intergenerationeller Beziehungen konnten wir zeigen, dass in jenen Beziehungen, die die Mitglieder der jungen und alten Generationen als befruchtend und stimulierend wahrnehmen, ein besonderes Potenzial liegt: Die verschiedenen Generationen regen sich gegenseitig zu Reflexionen an, sie dienen sich gegenseitig als „Entwicklungskontexte“, stimulieren also gegenseitig ihre geistige, emotionale und soziale Entwicklung.
Die seelisch geistige Dimension oder Beziehung gilt es also zwischen Jung und Alt zu pflegen und folglich zuerst zu entdecken. Wie kann sie etwa in die notfallpsychologische und praktische Betreuung einfließen, nachdem ältere Menschen etwas Einschneidendes erlebt haben? Konkret: Wie sollen Carelink-Fachleute im Einsatz auf ältere Menschen zugehen?
Andreas Kruse: Bedeutsam ist, ältere Menschen in ihren biografischen Erlebnissen und Erfahrungen, Werten und Bedürfnissen anzusprechen und gemeinsam mit ihnen darüber zu reflektieren, inwieweit sie diese Werte und Bedürfnisse verwirklichen können, inwieweit nicht, inwieweit sie ihre Erfahrungen auch heute nutzen können, inwieweit nicht. Und in einem zweiten Schritt sollte intensiv überlegt werden, in welchen sozialen und kulturellen Bereichen sich Möglichkeiten bieten, neue Kontakte zu schliessen und Interessen zu verwirklichen oder sich für andere Menschen ebenso wie für Ziele zu engagieren. Hier gewinnt die Aussage des Existenzpsychologen Viktor Frankl besondere Aktualität: Sinn in unserem Leben verwirklichen wir in dem Masse, in dem wir das Leben in den Dienst von etwas stellen, das ausserhalb unserer selbst liegt.
Ältere Menschen, die über die seelisch geistige Dimension mit anderen, etwa mit Jüngeren, in Beziehung stehen, können auch sehr viel leisten. In Ihren Referaten erinnern Sie gerne an Johann Sebastian Bach, der viele Schicksalsschläge verkraften musste und im höheren Alter gewaltige Musik erschaffen hat, obwohl er am Lebensende mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen konfrontiert war. Können gerade ältere Menschen dank seelisch geistiger Tiefe Schwieriges eher verkraften?
Andreas Kruse: Ich möchte es so ausdrücken: Wenn Menschen an ihr Leben gebunden sind, wenn sie ihr Leben als stimmig und sinnerfüllt erfahren, wenn sie sich getragen wissen – von anderen Menschen wie auch von Zielen sowie von inneren Bindungen –, dann können sie sich auch in Grenzsituationen als widerstandsfähiger erweisen bzw. Widerstandsfähigkeit (oder Resilienz) entwickeln. Das Erleben des Getragen-Seins durch erfüllende soziale Beziehungen (besonders wichtig) wie auch durch innere Bindungen (Aufgaben, Ziele und Interessen) kann nicht hoch genug bewertet werden.
Lesen Sie hier den Bericht zur Freiwilligentagung.