Der tiefere Sinn der Notfallpsychologie

Prof. Dr. Gernot Brauchle an der Carelink-Fachtagung.

Wer sich nach einem einschneidenden Erlebnis notfallpsychologisch betreuen lässt, handelt weise. Keine Hilfe von aussen zu beanspruchen, zeugt nicht unbedingt von Stärke. Diese Erkenntnis ist historisch gewachsen. Gesundheits- und Notfallpsychologe Prof. Dr. Gernot Brauchle* hat die Entwicklung an der Carelink-Fachtagung 2011 eindrücklich aufgezeigt.

Eine Reise mit der Eisenbahn – das war im 19. Jahrhundert das Erlebnis der reichen Leute. Doch je mehr sich das Eisenbahnnetz entwickelte, umso häufiger kam es zu Zwischenfällen und Katastrophen. Damit nahm sowohl die Zahl schwerer körperlicher Verletzungen und Todesfälle zu als auch die der unfallbedingten psychischen Traumata. Die Eisenbahn-Gesellschaften sahen sich mit Klagen von Opfern und Hinterbliebenen konfrontiert, und die Ärzte gerieten vorerst in den Ruf, Handlanger der Transportunternehmen zu sein, die diese vor hohen Schadenersatzzahlungen schützen würden. Sie waren auf jeden Fall gefordert, Simulanten von tatsächlichen Opfern zu unterscheiden. Die medizinische Wissenschaft, vor allem englische Chirurgen, die in die Behandlung von Überlebenden nach Eisenbahnunfällen eingebunden waren, sahen sich einem neuen, erklärungsbedürftigen Phänomen gegenüber. Unverletzte und physisch gesunde Überlebende zeigten eine Reihe von physischen Beschwerden, die augenscheinlich mit dem Unglück in Verbindung standen. So sahen englische Chirurgen die Ursache in den erheblichen Erschütterungen des Aufpralls beim Unglück und damit verbundenen, nicht sichtbaren Verletzungen am Rückenmark. Die Läsionen des Rückenmarks waren ihrer Meinung nach Auslöser für die späteren psychischen Symptome. Somit erhielt die «neue Erkrankung» den Namen «Eisenbahn-Rückgrat-Syndrom».

 

Das Erlebnis des Horrors – Kriegsneurosen

Die Kriegseuphorie vom August 1914 verlockte Hunderttausende dazu, sich kriegsfreiwillig zu melden. Mit dem angekündigten Krieg verbunden war die Aussicht, ein Abenteuer, Gemeinschaft sowie Weltgeschichte zu erleben. Doch die Wirklichkeit des Kriegs mit den Schrecknissen der schweren Artillerie, des Stellungskampfs, der Granaten, Schrapnells und Maschinengewehre, der Gewalt von Explosionen, zerfetzter und verschütteter Menschen und der ständigen Möglichkeit der eigenen Verletzung und Tötung verübte eine zerstörerische Wirkung auf die Psyche der Kriegsfreiwilligen. Scheinbar ohne körperlichen Befund zeigten «Kriegszitterer» Lähmungen, Aphasien, Seh- oder Gehörstörungen oder hatten Anfälle von Schmerz und Raserei, für die keine organische Ursache gefunden werden konnte. Die Vorschläge der Psychiater zur Ursache, deren kriegswichtiges Ziel die schnelle Bereitstellung von Kampfkraft war, waren vielfältig. Sie bewegten sich zwischen arglistiger Simulation, hysterischer Übertreibung und Willensschwäche oder minderwertigen Anlagen.

Therapiert wurden diese seelischen Ausfallserscheinungen durch Misshandlung, offene Drohung und mit Hilfe der so genannten «Kaufmannschen Kur». Dabei wurden unter Zufügung extremer Schmerzen mit einem elektrischen Pinsel jene Körperstellen bestrichen, die Ausfälle aufwiesen. Psychiater leiteten Strom auf erblindete Augen, taube Ohren und gelähmte Glieder, sie spreizten Kehlköpfe und liessen zwangsexerzieren. Der Terror dieser «Kuren» sollte das Grauen an der Kriegsfront überbieten und die Soldaten zwingen, «in die Gesundheit zu fliehen».

 

Ängstliche Soldaten – Angstneurose!

Auch der Vietnamkrieg traumatisierte ungezählte Soldaten. Gegen Kriegsende wurde von politischer Seite versucht, die Symptome unter dem Begriff der «Post Traumatic Anxiety Neurosis» zusammenzufassen. Doch konnten die schrecklichen psychischen Folgen des Kriegs nicht auf Grund von zu ängstlichen Soldaten – Angstneurotikern – erklärt werden. Auslöser für die psychischen Symptome war die traumatisierende Wirklichkeit des Kriegs selbst, die die Soldaten innerlich zerstörte. Folglich entwickelte sich Anfang der achtziger Jahre die Bezeichnung der «Post Traumatic Stress Disorder», der posttraumatischen Belastungsstörung. Damit entstanden umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen über akute und andauernde Stressreaktionen wie das Vermeiden von Auslösereizen, beunruhigende Erinnerungen, ein Gefühl der Unwirklichkeit, ein Sich-losgelöst-Fühlen von anderen oder episodisch überflutende Gefühle des Unbehagens.

 

Die Gesundheit bewahren

Der amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky war es, der die Frage, was einen Menschen krank mache, umkehrte und danach suchte, was ihn gesund halte. Mit anderen Worten: Er setzte der Pathogenese die Salutogenese entgegen. Die Gesundheitspsychologie begann damit an Einfluss zu gewinnen, die Prävention wurde zum wichtigen Thema. Indem entsprechend ausgebildete Laien – etwa von Blaulichtorganisationen – psychische Erste Hilfe leisteten, halfen sie nach einem Unglück, die Gesundheit der betroffenen Menschen zu stabilisieren.

Die so verstandene – und heute noch so definierte – Notfallpsychologie verdankt ihren Durchbruch einem Zwischenfall wiederum im Transportbereich: 1993, nach missglückter Landung auf dem Flughafen von Warschau, fing ein Airbus Feuer, zwei Menschen kamen dabei um. Jede der 68 überlebenden Personen wurde darauf umsorgt und erhielt umgehend Bargeld, um sich Kleider zu kaufen und sich mit dem Nötigsten einzudecken. Die verantwortliche Fluggesellschaft unterstützte sie umfassend – und verringerte zugleich die Schadenersatzansprüche, denen sie sich später gegenüber sah.

 

Strukturen schaffen

Was geht nun eigentlich in einem Menschen nach einem traumatischen Erlebnis vor? Alltägliche Entscheidungen trifft der Mensch weniger rational, als vielmehr emotional. Die innere Welt der Gefühle gibt die Basis, um den Alltag zu meistern. Doch diese innere Welt ist nach einem Trauma kein Richtungsweiser mehr, sondern eine einzige Gefahrenzone. Angst, Hilflosigkeit, Entsetzen – also pathogene Emotionen – machen sich breit. Im Sinne einer Ersten Hilfe steht der Notfallpsychologe oder die Notfallpsychologin der betroffenen Person bei, um diese pathogenen Symptome, die krank machen können, zu vermindern. Die Notfallpsychologie zielt somit darauf ab, Strukturen in das Leben einer betroffenen Person zu bringen und den Eindruck abzubauen, die Situation sei nicht zu bewältigen. Auch eine Aufklärung über unerwartete psychische Reaktionen gehört dazu: Die möglicherweise heftigen Gefühlsregungen einer betroffenen Person sind nichts anderes als eine ganz normale Reaktion auf ein Ereignis, das seinerseits ausserhalb der Norm liegt.

Notfallpsychologische Interventionen sind speziell darauf ausgerichtet, einer betroffenen Person wieder ein Gefühl der persönlichen Bedeutung, Integrität und Würde zu vermitteln und sie dabei zu unterstützen, das Gefühl von Sicherheit, Kontrolle und Vorhersehbarkeit zurückzugewinnen. Während Traumatisierte keine Zukunft mehr sehen, hilft ihnen die Notfallpsychologie geradewegs, eine Strategie für die Zukunft und somit für den Erhalt der Gesundheit zu entwickeln.

 

* Prof. Dr. Gernot Brauchle ist Gesundheits- und Notfallpsychologe und leitet das Institut für Angewandte Psychologie an der UMIT Tirol, der privaten Universität für Gesundheitswissenschaften sowie für medizinische Informatik und Technik.