Der Ort auch für Menschen aus der Ukraine
Menschen, die Krieg oder Schlimmes auf der Flucht erlebt haben, erhalten im Ambulatorium des Schweizerischen Roten Kreuzes in Wabern bei Bern psychotherapeutische Hilfe. Im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK, kurz Ambulatorium SRK, werden in Zukunft wohl auch traumatisierte Personen aus der Ukraine behandelt werden. Carelink hat mit Silvan Holzer gesprochen. Er ist Fachbereichsleiter Traumafolgestörungen Kinder und Jugendliche.
Herr Holzer, woher stammen die Menschen, die zu Ihnen kommen?
Silvan Holzer: Wir behandeln Menschen unabhängig ihrer Herkunft, ihrer Ethnie oder ihres Aufenthaltsstatus. Es sind Kinder, unbegleitete Minderjährige, Erwachsene und Familien, die aufgrund traumatischer Ereignisse im Herkunftsland, während der Flucht oder durch Stress nach ihrer Migration psychisch erkranken.
Wir arbeiten in einem interprofessionellen Team. Es besteht aus medizinisch und psychologisch geschulten Fachleuten sowie aus Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Im vergangenen Jahr haben wir 214 Menschen eine traumafokussierte Therapie- und Sozialberatung angeboten. Sie stammten mehrheitlich aus Syrien, Afghanistan, dem Iran, dem Irak, der Türkei, Sri Lanka und ostafrikanischen Ländern wie Eritrea und Somalia. Diese Zusammensetzung könnte sich dieses Jahr mit Blick auf den Krieg in der Ukraine verschieben.
Wie verständigen Sie sich?
Silvan Holzer: Es ist wichtig, dass die Menschen ihre Gefühle, Sorgen und Ängste in der Muttersprache ausdrücken können. Deshalb finden zwei von drei Terminen mit einer interkulturell dolmetschenden Person im Trialog statt. Ohne sie könnten wir einen Grossteil unserer Arbeit nicht leisten. Ich erlebe ihre Unterstützung als starke fachliche und persönliche Bereicherung. Dank ihnen können wir den verständlicherweise vorsichtigen, zurückhaltenden und auch misstrauischen Menschen helfen, Vertrauen zu fassen und eine Zukunftsperspektive zu entwickeln.
Führen Krieg und Flucht immer zu einem Trauma?
Silvan Holzer: Faktoren wie die Vorbelastung, eigene Ressourcen zum Verarbeiten, aber auch die Ressourcen des Umfelds entscheiden mit, ob jemand nach einem traumatischen Ereignis eine Traumafolgestörung entwickelt. Ein Kausalzusammenhang zwischen Krieg, Flucht und Trauma besteht nicht, aber je mehr traumatische Ereignisse eine Person erlebt, umso eher entwickelt sie eine Traumafolgestörung. Besonders verletzlich sind Kinder, da sie in Entwicklung begriffen und in existenzieller Weise von ihren Bezugspersonen abhängig sind. Die Folgen einer frühkindlichen Traumatisierung können unbehandelt ein Leben lang belasten.
Von welchen Krankheiten sprechen wir?
Silvan Holzer: Wir unterscheiden zwischen klassischer posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS). Die klassische PTBS ist deutlich besser erforscht, weshalb wir über verschiedene evidenzbasierte therapeutische Verfahren verfügen. So kann ein Monotrauma, also eine einmalige, überwältigende Erfahrung, relativ gut behandelt werden, und es geht oft mit einer günstigen Heilungsprognose einher.
Unsere Patientinnen und Patienten im Ambulatorium SRK erfüllen dagegen häufig die Kriterien einer komplexen PTBS: Sie leiden nicht nur unter den Symptomen der PTBS, sondern auch unter Schwierigkeiten im Umgang mit belastenden oder unangenehmen Gefühlen wie beispielsweise Ärger oder Trauer, einem negativen Selbstbild und Problemen in der Beziehungsgestaltung. Eine komplexe PTBS birgt unbehandelt ein hohes Risiko einer Chronifizierung und beeinträchtigt sämtliche Lebensbereiche.
Können Sie ein Beispiel geben, wie sich eine komplexe PTBS im Alltag äussert?
Silvan Holzer: Kinder und Jugendliche mit einer komplexen PTBS haben z.B. signifikant häufiger Lernschwierigkeiten. Lernfortschritte sind nur verlangsamt oder kaum möglich, und Lerninhalte werden weniger gut abgespeichert. Auch die Interaktion mit Lehrpersonen und der Kontakt zu Peers sind beeinträchtigt. Ein neunjähriges Mädchen aus Syrien hat mir erklärt, es sei besser, keine neuen Freundschaften zu schliessen, weil diese sowieso abbrechen oder diese Menschen verloren gehen würden. Solches Leid kann mit der Ankunft in der Schweiz nicht zwangsläufig enden.
Welche zusätzliche Unterstützung kann nebst der Therapie auch noch hilfreich sein?
Silvan Holzer: Die Menschen brauchen einen sicheren, geschützten Ort und, neben dieser Möglichkeit, sich zurückzuziehen und ungestört zu sein, soziale Partizipation mit einer sinnhaften Tagesstruktur und möglichst viel Normalität. Kinder brauchen schulische Angebote und in die Wochenstruktur integrierte, regelmässige Freizeitangebote. Auch freie Spiel- und Spasszeit, um unbeschwert zu sein, ist wichtig. Jugendliche brauchen Unterstützung, um eine realistische Zukunftsperspektive zu entwickeln. Das ist zentral in diesem Alter.
Das alles geht nicht ohne verlässliche Bezugspersonen. Unsere Sozialberatung ist ein Baustein in der psychischen Stabilisierung unserer Patientinnen und Patienten – zusammen mit wissensvermittelnden, körpertherapeutischen und allenfalls pharmakologischen Bausteinen.
Wie beziehen Sie Angehörige in die Therapie mit ein?
Silvan Holzer: Die primären Bezugspersonen haben die oftmals schier unglaubliche Flucht geschafft, weil ihnen die Hoffnung auf eine friedliche und gute Zukunft für ihre Kinder die nötige Kraft gegeben hat. Sie können sich sicher vorstellen, dass diese Eltern nun nicht selten zweifeln an ihren getroffenen Entscheidungen oder mit Schuld- und Schamgefühlen ringen. Natürlich sind sie selber auch von den Ereignissen betroffen und können darunter leiden. Sie sind es zugleich aber auch, die die Lebensgeschichte und die Persönlichkeit ihrer Kinder am besten kennen und uns von den Veränderungen berichten können. Deshalb beziehen wir die Eltern von Beginn an aktiv in die Behandlung der Kinder ein. Wir sind gegenüber primären Bezugspersonen und Erziehungsberechtigten in allen Kooperationen, ihren Fragen und unseren Empfehlungen transparent. Wir möchten die Eltern, wenn immer möglich stärken, damit sie für ihre «kleinen Seefahrer», wie die Psychotraumatologin und Autorin Tita Kern sie liebevoll bezeichnet, verlässlich wegweisende Leuchttürme sein oder wieder werden können.
Lesen Sie weiter, vor allem wenn Sie Menschen aus der Ukraine bei sich aufnehmen werden oder bereits aufgenommen haben. Silvan Holzer gibt Ihnen einige Verhaltensregeln mit auf den Weg: Ukraine: Damit das Verarbeiten gelingt.